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Hausbesuch in BochumDie Alleinunterhalterin

Einst spielte Esther Münch Theater auf der Straße, mittlerweile füllt sie als straßenkluge Putzfrau Waltraud „Walli“ Ehlert große Säle.

Pailletten, Federn und Lametta: Münch tritt selten in schlichten Outfits auf Foto: Michael Grosler

Ob sie Humor erklären könne? Esther Münch muss nicht lange überlegen: „Humor ist wie Essen. Was der eine gut findet, kann der andere nicht leiden.“

Draußen: In die Jahre gekommene Einfamilienhäuser säumen die Straße in Bochum-Dahlhausen. Manche sind aus rotem Klinker, andere mit grauem Schiefer verkleidet. Statt eines Kirchturms ragt im Hintergrund ein backsteinerner Industriekamin in die Höhe. Viel Grün wächst entlang der Straßen, nicht akkurat geschnitten sondern wild. Eine Gedenktafel erinnert an den Kohleabbau, der in dieser Ecke schon im 18. Jahrhundert begann. Im Hof des türkischen Kulturzentrums ganz in der Nähe wurde der Eingang zu einem historischen Stollen wieder freigelegt.

Drinnen: Einst war das Haus, in dem Esther Münch und ihr Partner wohnen, mit sechs sehr kleinen Werkswohnungen ausgestattet. Je zwei auf jeder der nur 45 Quadratmeter großen Etagen, erbaut vom Schamottsteinproduzenten Carlos Otto. Heute sind Wände zwischen den Wohnungen herausgerissen, die Balken freigelegt. Im kleinen Wohnzimmer liegen Kissen auf dem Boden. Tagsüber ruhen sich die drei Windhunde und der Windhundmischling darauf aus. Abends schauen sie mit Münch und ihrem Partner die Nachrichten. Die Möbel im Esszimmer seien aus ihrem Geburtsjahr 1959, erzählt Münch. Dazu gibt es viele Bücher, viele CDs, und ein paar Souvenirs wie die mit Petroleum bestückte Grubenlampe, die an die Bergbauvergangenheit ihrer Vorfahren erinnern.

Der Pott: Münch ist in Bochum geboren, hat ihr Leben lang dort gelebt. Die Verbundenheit mit dem Pott ist ihr Herzensangelegenheit. Und Zungenangelegenheit dazu. Sie beherrscht den Slang, vornehm „Regiolekt“, perfekt. Und sie spricht ihn gern und oft. Fängt sie erst einmal an, ist sie nicht zu stoppen, schon das Reden allein ist Performance. Und erst die Bildsprache, die sie gebraucht. „Dass wir eine Rolle rückwärts machen in Sachen Emanzipation, da krieg' ich Stehhaare.“ „Die katholische Kirche, das ist schnittfester Schaum.“ „Kinder brauchen Leitplanken, sonst sind sie als Erwachsene Tamagotchis.“

Verlaufsform: Als Germanistin hat sie dem Ruhrpottlerischen auch von der Sprachgeschichte her nachgespürt. Und klärt gern über die Verlaufsform auf, die es im Deutschen eigentlich gar nicht gibt. Im Pott kamen Menschen aus vielen Regionen der Welt zusammen, Verbkonjugation auf Deutsch fiel einigen schwer. So kam es, dass sich auf die Frage, „Was machst du?“, im Regiolekt Antworten mit folgender Grammatik durchsetzten: „Ich bin an Arbeiten/an Kochen/an Essen.“ Daraus wurde über die Zeit am statt an. Dass das heute als gesamtdeutsche Alltagssprache gilt, könnte Münch stolz machen, aber sie sagt: „Da bin ich am Schweißflecken kriegen.“

Herkunft: Münchs Vorfahren wanderten einst aus vielen Himmelsrichtungen ins Ruhrgebiet ein, um im Bergbau oder den Stahlschmieden zu arbeiten. Mütterlicherseits aus den Masuren und Pommern, väterlicherseits aus Oberfranken und Hessen. Ihre beiden Großväter waren Schmiede. Keine, die Pferden Hufeisen aufschlagen, sondern Stahlschmiede. Die machten etwa Radsätze und Stahlreifen für Eisenbahnen. Auch ihr Vater war Hammerschmied. Und Fliesenleger. Und später Polizist. Die Mutter Sekretärin. „Lass mich arbeiten, du wirst es gar nicht merken“, soll sie zu ihrem Mann gesagt haben. Soll heißen: Die Mutter arbeitete und schmiss den Haushalt wie gewohnt. Die Kinderversorgung oblag ihr ohnehin.

Neben dem Schauspiel macht sie auch Musik Foto: Michael Grosler

Kindheit: Als Esther Münch zur Welt kam, sei die Familie Kopf gestanden. „Ein Mädchen!“ Zur Welt geholt von der Großmutter, die Hebamme war. Fünf Generationen lang waren in der Linie des Vaters keine Mädchen in die Familie geboren worden. „Mein Vater drehte durch vor Glück.“ Münch sei als Kind nicht zu stoppen gewesen, hatte ununterbrochen irgendwelche Einfälle, redete pausenlos. „Ich war Klassenclown, wie alle Kinder, die allen zu viel sind“, sagt sie. Das Abitur schafft sie trotzdem. „Heute würde man mir irgendeine Diagnose verpassen.“ ADHS beispielsweise. Als sie über 30 war, bekam sie dann tatsächlich eine Diagnose: Sie ist hochsensibel. „Ich kann die Stimmungen der anderen auch im Dunkeln wahrnehmen.“

Theater: Nach dem Abitur studiert sie Germanistik und Geschichte. Auf Lehramt. Lehrerin wird sie jedoch nie. Dafür Mutter, doch die Beziehung zum Vater platzt schnell. Sie ist von nun an alleinerziehend, arbeitet halbtags in einer sozialen Einrichtung mit Jugendlichen und macht Straßentheater. Damit verdient sie sich ein paar Mark dazu. „Ich habe mich ausprobiert auf der Straße.“ Wie? „Ich konnte ein Stuhl sein. Ich konnte ein Staubsauger sein. Ich konnte alles sein. Ich bin Leuten auch hinterhergelaufen. Haben die sich umgedreht, habe ich sie angelächelt.“ Und nach einer Pause: „Das anstrengende kleine Mädchen, das ich war, findet sich darin wieder.“ Sie beginnt, nebenbei an der Uni Bochum Improvisationstheater zu studieren und findet nach und nach als Unterhalterin ihren Weg auf die Bühne.

Alter Ego: Reden kann sie. Singen übrigens auch. Quer durch alle Genres. Bevor sie das Theater für sich entdeckt, ist sie 15 Jahre lang semiprofessionelle Sängerin in diversen Bands. Und eine Message hat sie zudem. Die Ungerechtigkeiten in der Welt regen sie sehr auf. Sie findet, man müsse was tun dagegen. Was ihr damals auf der Bühne allerdings fehlt, war eine Figur, der sie ihre Worte in den Mund legen kann. Es dauert, bis sie ihr Alter Ego findet. Es ist eine Putzfrau. Sie heißt Waltraud Ehlert, alias Walli.

Die Schnauze: Auch Walli redet gern und viel. Straßenklug räsoniert sie über den Missbrauchsskandal in den Kirchen. Die Geldverteilung in der Welt. Flüchtlinge und Ausgrenzung. Sie hat was zum Backlash in Sachen Emanzipation zu sagen, zum verantwortungslosen Umgang mit der Umwelt, zu KI und darüber, dass Zwischenmenschlichkeit ein Auslaufmodell ist. Die Einfachheit, mit der Walli all das erklärt, ist die Pointe. „Putzfrauen führen ein Schattendasein. Dabei bekommen sie sehr genau mit, wie es in der Welt zugeht. Sie sehen sehr viel mehr, als denen lieb ist, bei denen sie putzen.“ Münch war selbst eine Weile bei Putzfirmen angestellt, „um ein authentisches Gefühl dafür zu bekommen“, sagt sie.

Kabarett: Seit dreißig Jahren spielt Esther Münch diese Walli und lebt von der Alleinunterhaltung. 20 Soloprogramme hat sie geschrieben. Im Grunde sind es Lehrstücke, in denen sie sorgfältig durchrecherchierte Ungerechtigkeiten vorträgt, gut verpackt in Slapstick, Schlagfertigkeit und Witz. Auf diese Weise predigt sie nicht nur zu den Bekehrten. Daneben ist sie Musikerin, hat eine Radiokolumne und führt auf Bürgertreffs als Walli kritische Interviews mit Lokalpolitikern und -politikerinnen. Bei den Omas gegen Rechts ist sie auch und während der Coronazeit hat sie 900 kurze Walli-Sequenzen aufgenommen, in denen sie erklärt, wie es in der Welt zugeht. „Wallipedia“ heißt das Programm. „Ich habe es gemacht, um selber den Kopf über Wasser zu halten“, erzählt sie. „Wenn aber die Stimmung am Boden ist, koche ich.“ Im Sommer am liebsten Marmelade, im Winter Tartes. „Zur Not auch nachts.“

Selbstzweifel: Trotzdem, einmal hat selbst Kochen nicht geholfen. „Im vergangenen Jahr hat mich der Lebensmut verlassen“. In ihrer Traurigkeit schrieb Münch Gedichte, die sie bald als Buch herausgeben wird. „Sichtbar“, lautet der Titel. Wörter gegen die Auflösung / Wörter gegen die Einsamkeit / Wörter für die Fürsorge / Wörter, um zu bleiben. „Solange ich Wörter habe, bleibe ich“, sagt Esther Münch. Und die Walli in ihr sagt: „Solang ich dich die Stange halt, bleibt et hell in dein Leben.“

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