Die Akte Anis Amri: Vertuschung ja, Strafvereitelung nein
Polizisten haben nach dem Berliner Terroranschlag die Akte über den Attentäter verändert. Die Staatsanwaltschaft erhebt keine Anklage.
Amri war am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gefahren und hatte zwölf Menschen getötet. Bereits zwei Monate zuvor hatte eine Polizistin Amri und einem weiteren Mann in einer zehnseitigen Überwachungsauswertung bandenmäßigen Rauschgifthandel zugeschrieben. Nach dem Anschlag kürzte der Beschuldigte diesen Bericht auf zwei Seiten zusammen, in denen nur noch von „Kleinsthandel“ die Rede ist. An der Änderung soll auch ein Vorgesetzter beteiligt gewesen sein. Im Kurzbericht taucht zudem der zweite Drogenhändler nicht mehr auf. Sein Namen verschwand auch aus dem Polizei-Computersystem. Das deckte im Frühjahr 2017 ein Sonderermittler der Berliner Landesregierung auf, worauf der Polizeipräsident Anzeige wegen Strafvereitelung stellte.
„Nicht jede fehlerhafte Sachbearbeitung durch die Polizei ist eine Strafvereitelung“, sagte Staatsanwalt Holger Brocke, der mit Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra in dieser Sache ermittelte. Beide sahen keinen ausreichen Beleg dafür, dass der Polizist Amris mutmaßlichen Rauschgift-Mittäter schützen wollte – und nur darum geht es beim Tatbestand der „Strafvereitelung im Amt“.
Kamstra vermutete anderes als Grund für die nachträgliche Aktenveränderung: Der Beamte habe sich „unangenehmen Fragen entziehen“ wollen – was aber nur eine Spekulation sei. Später formulierte er, der Polizist habe „fehlerhafte Arbeit glatt ziehen“ wollen. Das war schon die generelle Vermutung, als die Sache im Mai 2017 bekannt wurde. Auf die taz-Frage, ob man den Beschuldigten direkt mit dieser Vermutung konfrontierte, sagte Kamstra, dass es gar keine direkte Befragung des Polizisten gab. Dieser habe sich schriftlich über seinen Anwalt geäußert. Auf eine persönliche Befragung habe man rechtlich keinen Anspruch gehabt.
Polizeigewerkschaft begrüßt Entscheidung
Kritiker hatten nach Bekanntwerden der Veränderungen geäußert, man hätte Amri als Rauschgifthändler festnehmen können, wodurch es nicht zu dem Anschlag gekommen wäre. Staatsanwalt Brocke warnte am Mittwoch davor, den jetzigen Kenntnisstand mit dem vor dem Anschlag zu vermengen.
Detlef Herrmann, GdP-Vize
Vom Berliner Innensenator, in dessen Auftrag die Anzeige in Gang kam, gab es bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme. Anders die Gewerkschaft der Polizei (GdP): Die begrüßte die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Anklage zu erheben, und kritisierte, man habe die Betroffenen vorverurteilt. „Dieses Verfahren war von Anfang an eine zusammengeschusterte Konstruktion, um irgendjemanden als Sündenbock für strukturelle Unzulänglichkeiten verantwortlich machen zu können“, sagte Berlins Vize-GdP-Chef Detlef Herrmann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was