piwik no script img

Die Affen kommen

Ein russischer Schriftsteller, Jahrgang 1901  ■ Von Karl Schlögel

Der Schriftsteller und Dramatiker Lew Natanowitsch Lunz ist in Deutschland, wo er gestorben ist, fast unbekannt, und in Rußland, wo er geboren wurde, auch in den Tagen der Perestroika noch nicht wiederentdeckt. Ein sorgfältig edierter Auswahlband seiner wichtigsten Erzählungen, Essays und Stücke liegt nun vor, zum Teil mit bisher nicht übersetzten Texten. Lunz' Oeuvre ist so schmal wie sein Leben kurz war, aber von einer Knappheit und Präzision der Sprache, von einer Zielgerichtetheit der Handlungen, wie sie nur zustande kommen in einer Zeit, die nur für das Nötigste Zeit läßt.

Lunz, Jahrgang 1901, stammte aus einer jüdischen Petersburger Familie, studierte Romanistik und erlebte als 16jähriger die Revolution. Im Petrograd des Bürgerkriegs stößt er auf andere, aus verschiedenen Winkeln des zerfallenen Reichs auftauchende junge Schriftsteller, die sich alsdann „Serapionsbrüder“ nennen. In diesem Kreis von genialischen jungen Männern mit den abenteuerlichsten Lebensläufen und verschiedensten Begabungen formuliert Lunz selbstbewußt und polemisch die theoretische Position der „Jungen“ und legt in wenigen Jahren, die ihm bis zum Tod bleiben, sein Lebenswerk vor, von dem in der Folgezeit fast alles nur in Emigrationszeitschriften gedruckt und nichts aufgeführt wurde. Ausgezehrt von Arbeit und Hunger, reiste Lunz 1923 nach Deutschland, wohin seine Eltern emigriert waren. Er starb dort ein Jahr später im Hamburg-Eppendorfer Krankenhaus an einer Gehirnembolie.

Die „Serapionsbrüder“ hatten nicht nur die Bewegung der Zeit, sondern den Druck einer jahrzehntelangen Tradition der russischen Literatur gegen sich. Als junger Schriftsteller in den Jahren der Revolution sich als „Einsiedler“ zu erkennen zu geben, wie es in einem Manifest der „Serapionsbrüder“ heißt, und sich nicht einschüchtern zu lassen von dem allenthalben geäußerten „l'art pour l'art“-Vorwurf, war nicht wenig. Es bedeutete Widerstand nicht nur gegen die parteipatentierte Kunst, sondern auch Resistenz gegen die ganze Atmosphäre, in der zwei bis drei russische Schriftsteller- und Künstlergenerationen aufgewachsen war — definiert durch einen „sozialen Auftrag“ der Literatur, deren angebliche „Verantwortung vor dem Volk“. Und es war kein geringerer als Tolstoi, dem „Stiefel wichtiger waren als Puschkin“. Lunz — und mit ihm andere, die weder Ästhetizisten waren noch den Ästhetizismusvorwurf fürchteten — schreibt kategorisch: „Qualvoll und viel zu lange wurde die russische Literatur von der öffentlichen Meinung dirigiert. Es ist an der Zeit zu sagen, daß eine nichtkommunistische Erzählung talentlos sein, daß sie aber ebenso gut auch Genialität besitzen kann... Das sind elementare Wahrheiten, aber jeder Tag überzeugt uns davon, daß man sie immer und immer wieder aussprechen muß.“ Lunz und seinesgleichen haben es in der stürmischsten Zeit getan. Lunz verlangte von der „Bruderschaft“ nur das eine: „daß der Ton nicht falsch klingt.“

In Eine anormale Erscheinung wird einem Bürger auf einer nächtlichen Petersburger Straße der Pelz gestohlen. Er wendet sich an den Milizionär. Indessen tauchen zwei Gestalten mit dem gestohlenen Pelz auf, nehmen den Bestohlenen in die Mitte und „leihen“ ihm einen Pelz, weil er friert, verschwinden aber daraufhin. Der Milizionär, immer noch auf der Suche nach dem gestohlenen Pelz, nimmt den Bürger fest. So wird aus dem Bürger mit Pelz ein Bürger ohne Pelz und schließlich ein Mensch, der seinen eigenen Pelz gestohlen hat. Das ist fast mathematisch kalkulierte Exaktheit, die dennoch nicht die Überraschung am Ende mindert. Lunz ist kein „Realist“, die Dynamik der Geschichte ist nicht einer wirklichen Begebenheit entnommen, sondern aus der Konstruktion des Sujets, der Handlung selbst. Auch in den anderen Geschichten — Ausgangsschreiben Nr.37, Im Zug, Der Patriot — wachsen den Akteuren die von ihnen angestoßenen Ereignisse über den Kopf. Alle „dramatis personae“ sind in gewisser Weise Spielball von Abläufen, die der Autor nur durchsichtig macht, „dramatisiert“. Am meisten ausgearbeitet ist diese Methode in dem Filmszenario Der Aufstand der Dinge. Rein äußerlich ist es ein Stück vom Sieg der Liebe über den Haß, des Lebens über den Tod, des Triumphs der Waffe, die sich letztlich gegen den Mörder selbst wendet. Doch ehe es soweit ist, läßt Lunz eine Welt vorbeiziehen, in der „alles an seinem Ort ist, es gibt nur keinen Sinn“. Lunz deutet hier nicht nur eine äußerliche politische Ordnung an, über die es keine Gewalt mehr gibt, sondern ein „law and order“ der Sachwelt, in der die Dinge sich verselbständigen und den Sinn, der ihnen zugedacht wurde — Kaufhäuser, Straßenbahnen, Autos usf. — unter sich begraben.

Heutzutage, da so viel „post festum“ räsonniert wird, lohnt es sich, Schriftsteller zu lesen, die im Frühstadium „dabei waren“, die keinen historischen Überblick über das, was dann folgte, haben konnten, dafür aber ein Gespür für die Bedeutung dessen, was sich unter ihren Augen abspielte. In den Dramen Die Affen kommen, Die Stadt der Gerechtigkeit sehen wir überall schon die Angst, die die Bereitschaft des Gehorsams und der Unterwerfung erzeugt. Als Dramen sind sie faszinierend, weil immer im Zweifel bleibt, was nun Bühne und was Realität ist, ob die Schauspieler sich selber oder ihre Rolle spielen.

Wahrscheinlich konnte dieses zweideutige Spiel zwischen Theater und Leben, zwischen Theatralisierung des Lebens und dem Einbruch des Lebens in die Theaterwelt nur dort so brillant ausformuliert werden, wo tatsächlich ein radikaler geschichtlicher „Dekorationswechsel“ stattgefunden hatte. Auch muß der Zug zum Grotesken — besonders: Ausgangsschreiben Nr. 37 und Der Patriot — kräftig inspiriert sein von der allgemein gewordenen Erfahrung des Zeitgenossen, daß sich im großen Chaos nichts mehr von selbst verstand und jeder aus seiner angestammten Rolle herausgefallen war.

Lunz' Neigung zur Handlung mit oft überraschenden Wendungen ist auch theoretisch fundiert. Er war es, der der russischen Literatur vorhielt, sie kranke an Handlungsarmut oder sogar Abwesenheit von Handlung. Daraus erwuchs auch sein feuriges Plädoyer „Nach Westen!“, wo man etwas lernen könne. „Ein Bauer oder ein Arbeiter braucht, wie jeder normale Mensch, Spannung, eine Intrige, eine Handlung.“ Also: Abenteuergeschichte, einen „russischen Stevenson“. Und den Schriftstellern ruft er zu: „Seid revolutionäre oder konterrevolutionäre Schriftsteller, Mystiker oder Gottesstreiter, aber seid nicht langweilig.“

In dem Band gibt es zwei Stücke, in denen wir vielleicht ein wenig erfahren über den Ursprung dieser ungewöhnlichen Selbständigkeit eines so jungen Schriftstellers. Sie unterscheiden sich auch im Ton, in den Bildern, im Rhythmus. Am Ende der in einer archaisierenden und expressionistischen Sprache geschriebenen Erzählung In der Wüste heißt es: „Über Israel aber und über der Zeit und über dem Lande, das von Milch und Honig fließt: schwarz und bärtig wie Israel, der Rächer und Mörder, — Gott — der Gnadenreiche und Langmutige, der Gerechte, wohlwollende und Wahrhaftige.“ In Heimat geht es um die Leiden und die Sehnsucht der Juden in der babylonischen Gefangenschaft. Es ist nicht schwer, zu erkennen, was mit den „geradlinigen Straßen und rechtwinkligen Wegkreuzungen“ gemeint ist: Petersburg, die Stadt, in der Lunz geboren und aufgewachsen war. Die heimatliche Fremde oder die fremde Heimat haben Lunz erzogen. „Über Petersburg aber ist ein grauer und kalter Himmel, heimatlich und dennoch fremd.“ Aus einer solchen Optik ließ sich erkennen, was andere noch nicht einmal ahnten.

Lev N. Lunz: Die Affen kommen. Erzählungen, Dramen, Essays, Briefe; herausgegeben von Wolfgang Schriek, Johannes Lang Verlag, Münster 1989.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen