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■ Ist Weihnachtsstreß schlimm? Im Gegenteil – der gehört zum feierlichen Ritual wie die Bescherung, sagt Psychologe Arnold Retzer im Interview mit Jan FeddersenDie Adventszeit ist nur die Vorrunde zum Fest

Psychologischen Rat suchen zum Fest der Liebe besonders viele Ratlose: Wie entgehe ich dem Frust mit der Familie, wie einer möglichen Enttäuschung zur Weihnachtszeit?

taz: Wo man sich dieser Tage auch umhört – Weihnachten empfinden die meisten Menschen als belastend und stressig. Woran liegt das?

Arnold Retzer: Weil Weihnachten ein Ritual ist, dem sich kaum jemand in unserem Kulturkreis entziehen kann. Der britische Erzähler Charles Dickens hat das so beschrieben: Weihnachten ist etwas, das man immer tut, weil man es immer schon getan hat...

...fast beschwörerisch erwarten alle von dem Fest, daß sich familiäre Harmonie einstellt...

...und daß die Konflikte beschwichtigt werden. Und obwohl jeder weiß, daß dies eine sehr trügerische Hoffnung ist, die Erwartungen aber trotzdem sehr hoch sind, kommt es im vorhinein zu Streß. Die Adventszeit ist sozusagen die Vorrunde für Weihnachten.

Wie wäre dieser Streß vermeidbar?

Wozu eigentlich soll er vermieden werden? Bei Weihnachten geht es doch – und alle wissen das – um menschliche Nähe, um Liebe und Zuneigung.

In den Familien?

Ja, aber auch um die Idee der Familie. Und in den Familien selbst natürlich auch. Weihnachten ist für alle ein nützliches Ritual, Familie alle Jahre wieder aufs neue zu inszenieren.

Ginge das nicht auch im Urlaub?

Natürlich, aber Weihnachten ist die klassische Form, die, die gesellschaftlich die akzeptierteste ist. Ich glaube jedenfalls, daß zu Weihnachten auch Streß gehört. Alle kennen das, alle wissen um die Konflikte. Und alle wissen um die Enttäuschung nach dem Fest, wenn es vielleicht doch nicht so schön war. All diese Empfindungen gehören zum Ritual. So wie schon gleich nach Weihnachten die Hoffnungen beginnen, daß das nächste Weihnachten besser wird.

Viele behaupten, daß Weihnachten früher besinnlicher war.

Eine typische Aussage von Leuten, die sich auf Weihnachten freuen – und jedesmal ein bißchen enttäuscht werden. Deshalb glauben sie, daß es früher schöner war. Darin steckt eine tiefe Wehmut.

Kommt das Gefühl unbefriedigender Weihnachten nicht auch daher, daß keiner mehr dem Bild der heiligen, intakten Familie mehr traut?

Diese heilige Familie hat es auch früher nicht gegeben. Der Unterschied zu früher ist, daß jetzt über die Zerrüttungen offener und öffentlicher gesprochen wird.

Und inzwischen gibt es Familien, die der biologischen Ordnung – Vater, Mutter, Kinder – nicht mehr unbedingt entsprechen: Freunde, Freundinnen, neue Väter, neue Mütter, neue Omas, neue Opas.

Ja, gewiß, aber auch diese unübersichtlichen Verhältnisse wollen geordnet sein – gerade zu Weihnachten. Deshalb werden bei den Menschen die Erwartungen an das Hohe Fest auch immer höher. Gerade dann muß entschieden werden, wer eingeladen wird und wer nicht. Diese feinen Unterschiede in der Wertschätzung stiften Familie.

Die Scheidungsziffern steigen...

Die zentrifugalen Kräfte, also das, was Familien auseinandertreibt, werden stärker – und damit zugleich die Wünsche der Betroffenen nach mehr Innigkeit, Zusammenhalt.

Und das soll Weihnachten alles unter einen Hut gebracht werden?

Ja, deshalb wird das Fest auch immer wichtiger. Die Idee der Familie wird stärker beschworen. Was ich heute beobachte, ist nicht, daß das Unheil der Familie zunimmt, sondern daß der Anspruch auf das Heil in und durch die Familie wächst.

Mal praktisch gefragt: Ist es herzlos, die Eltern Weihnachten allein zu lassen?

Nein, das ist ein ganz natürlicher Prozeß. Weihnachten ist eine wunderbare Gelegenheit, die Evolution der Familie zu inszenieren.

Und das bedeutet?

An Weihnachten lassen sich zwei Dinge verbinden. Einmal die Kontinuität der Wiederholungen, die Versicherung, daß nicht alles unübersichtlich ist im Leben, nicht alles zur Disposition steht. Darüber hinaus eröffnet das Heilige Fest Möglichkeiten der Veränderung. Das Kind zeigt sein Erwachsenwerden etwa, wenn es zum Weihnachtsfest die Eltern zurücklassen kann. Dies hat den Charakter einer rituellen Dokumentation.

Was meist nicht ohne Kummer abgeht.

Aber der muß sein. Familie ist ein lebendiges System. Familie ist auch Streß, Familie ist auch Konflikt. Wenn keine negativen und positiven Gefühle in einer Familie zum Weihnachtsfest vorhanden sind, hätte ich das Gefühl, es mit einem nicht mehr sanierungsfähigen Bankrottunternehmen zu tun zu haben.

Eltern verstehen sich oft gut darauf, ihren erwachsenen Kindern Schuldgefühle zu machen, wenn sie mit ihnen nicht zusammen unter dem Tannenbaum sitzen.

Dieser Konflikt kann keinem Kind abgenommen werden. Durch den muß es mit aller Energie, mit aller Unzufriedenheit und mit aller Aggressivität durch. Kinder, die den Ablösungsprozeß nicht schaffen, gestalten auch als Erwachsene ihre Haltung zu den Eltern wie kleine Kinder. Was wiederum nicht im Interesse der Eltern sein sollte.

Gibt es denn überhaupt keine Rettung vor Weihnachten?

Wenn Weihnachten nur eine Bedrohung wäre, gäbe es tatsächlich keine Rettung. Aber so sehe ich das Fest nicht. Was kann man gegen den Streß sagen? Er dokumentiert doch zunächst nichts anderes als das Interesse von sich nahestehenden Menschen, einander wieder näher zu kommen.

Manche suchen ihr Heil in WG-Essen mit anschließendem Skatspielen.

Was ironischerweise auch nur die Negation des Rituals wäre – kein Mensch entkommt dem Fest. In einem Bericht aus der Kommune II hieß es: „Es ist 24. Dezember. Wir haben die Leute aus der Kommune I eingeladen. Der weiße Tisch im gemeinsamen Eßzimmer ist bedeckt mit gebratenem Geflügel, Gemüsen, Salaten und teuren Getränken.“

Das hört sich an wie bei Muttern.

Richtig, und weiter heißt es: „Jemand hat den Plattenspieler angestellt, die Rolling Stones zerfetzen das Tischgespräch, man muß schreien, wenn man miteinander sprechen will, alle sind bedrückt und unglücklich.“

Ein normales Weihnachtsfest.

Genau. Und entschuldigend heißt es am Ende: „Für jeden von uns war mit dem ominösen Datum 24. Dezember ein Stück Familie wieder lebendig geworden. Die unerträglich verlogene Sentimentalität dieser häuslichen Weihnachtsfeiern, aber auch die kindliche Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe.“

Was raten Sie, dieser Enge zu fliehen?

Diese Enge gehört zur Familie schlechthin. Familien ohne ein zeitweiliges Gefühl von Einengung gibt's nicht. Wäre das nicht so, würden ja Kinder niemals die Energie und die Vision entwickeln wollen, aus dem Elternhaus zu gehen.

Trotzdem kommt es gerade zu Weihnachten immer wieder zu handgreiflicher Gewalt in den Familien: Väter rasten aus, Mütter heulen Geschirrtücher naß, Kinder sind verzweifelt.

Was nicht wundert, wenn die Konflikte nicht ausgetragen werden. Wem Sentimentalität peinlich ist, wer weihnachtliche Gefühle scheut, wer also seine Verstrickung mit den engsten Angehörigen, mit der Familie nicht spürt – im guten wie im schlechten –, wird aggressiv.

Als Ventil?

Ja, als Ausdruck der unterdrückten negativen Gefühle zu Weihnachten. Der Streß ist ja auch ein Zeichen der Bitterkeit, die es in jeder Familie auch gibt. Liebe ist nie nur liebevoll. In ihr steckt ja auch ihr Gegenteil, der Haß. Beide Gefühle liegen dicht beieinander und bedingen sich wechselseitig – gerade zu Weihnachten.

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