Diakonie-Helfer Tommy Ramm: "Ich kann keine Gewalt bestätigen"
Tommy Ramm ist mit der Diakonie Katastrophenhilfe auf Haiti. Er sagt, noch habe er keine Plünderungen beobachten können, die Medien hätten aufgebauscht. Das könne aber ganz schnell umschlagen.
taz: Herr Ramm, gibt es tatsächlich Massenplünderungen und Vergewaltigungen, wie Nachrichtenagenturen berichten?
Tommy Ramm: Es mag zwar mit den vergehenden Tagen mehr Unruhe und natürlich Verzweiflung bei vielen Menschen geben, die in Wut und Gewalt umschlägt, aber ich kann keine Gewaltatmosphäre bestätigen, was oft berichtet wird. Von Zwischenfällen wie Plünderungen wurde punktuell berichtet, und nachts hört man ab und zu Schüsse, aber die Stadt ist noch weit davon entfernt, von marodierenden Banden heimgesucht zu werden. Es herrscht auch fünf Tage nach wie vor relative Ruhe, obwohl es so gut wie keine Polizisten auf den Straßen gibt. Das ist eher überraschend.
ist 37 Jahre alt und seit Donnerstag in Haiti. Er ist Mitarbeiter der Diakonie Katastrophenhilfe. Sonst arbeitet er seit 9 Jahren im Büro Lateinamerika der Organisation in Bogotá. Die Diakonie Katastrophenhilfe leistet seit über 50 Jahren Nothilfe für Menschen, die Opfer von Naturkatastrophen, Krieg und Vertreibung wurden.
Auch aus eigenen Beobachtungen empfinde ich die Meldungen aufgebauscht. Liegt das an dem Druck, gute Storys zu liefern?
Vielleicht ist der Grund eher darin zu suchen, dass Haiti seit je das Stigma eines gewalttätigen Landes mit regelmäßigen sozialen Unruhen trägt. Außerdem sind bei solchen Katastrophen Plünderungen und Gewalt oft die Folge. Meldungen von Übergriffen werden deshalb gern aufgebauscht. Was aber nicht heißen soll, dass es in wenigen Tagen tatsächlich nicht zu mehr Gewalt kommen kann. Das hängt im Besonderen von der Versorgung der Menschen ab.
War das Krisenmanagement effektiv?
In den ersten Tagen war das Krisenmanagement völlig überfordert. Das hat seine Gründe: Der bisher schon schwache Staat hat praktisch aufgehört zu existieren. Der UN-Sitz wurde zerstört, und viele NGOs im Land haben ebenfalls Opfer und immense Schäden zu beklagen, was sie arbeitsunfähig gemacht hatte. Wertvolle Tage sind dadurch verloren gegangen.
Was braucht Haiti jetzt dringend?
Haiti braucht für die kommenden Monate eine gut koordinierte Nothilfe. Das sind die chirurgische Ausstattung für Operationen und eine langfristige medizinische Versorgung. Neben Wasser und Nahrungsmitteln fehlen Zelte, Decken und Plastikplanen, um die tausende Flüchtlinge in den Lagern zu versorgen. Diese werden vermutlich lange Zeit dort bleiben müssen, denn der Wiederaufbau benötigt Jahre. Das Krisenmanagement ist für lange Zeit notwendig. Vermutlich über Monate und der Wiederaufbau danach über viele Jahre.
Sehen Sie eine Chance für Haiti, aus dieser menschlichen, politischen und sozialen Katastrophen herauszukommen? Ist die ungeheure Zerstörung eine Möglichkeit zum Neuanfang?
Haiti wird zwangsläufig einen Neuanfang suchen müssen, denn das alte Haiti ist zerstört. Die Hauptstadt gleicht einem Trümmerfeld, die staatlichen Strukturen haben sich praktisch aufgelöst, und die Menschen leben seit Dienstag in alle Winde zerstreut. Von einer Chance zu sprechen geht meines Erachtens zu weit. Zu viele Menschen sind gestorben. Zunächst muss aufgepasst werden, dass das Land in den kommenden Tagen und Wochen nicht aufgrund der prekären Versorgungslage in Gewalt versinkt. Wenn das gesichert ist, kann man an eine bessere Zukunft denken, die über die kommenden Jahre konstruiert werden muss.
Gehen Sie davon aus, dass die Verheerungen im Südwesten der Insel noch schlimmer sind als die in Port-au-Prince?
Die Zerstörungen etwa in Leobane sollen ähnlich verheerend gewesen sein wie in der Hauptstadt. Augenzeugen berichten, dass die Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden sei. In anderen Städten und Ortschaften sind die Zerstörungen eventuell geringer. Aber das Problem ist, dass in den ländlichen Zonen noch unklar ist, wer wo und wie Hilfe leistet und wo die Menschen betroffen sind. Dort könnte die Tragödie mit der Zeit verheerend wirken.
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