Deutschland und Bergkarabach: Zynisch und geschichtsvergessen
Die deutsche Bundesregierung nimmt Warnungen vor einem Genozid an Armenier:innen nicht ernst. Ein Skandal, der allerdings nicht verwundert.
S eit Dezember 2022 leben im südkaukasischen Bergkarabach/Arzach 120.000 Armenier:innen in Isolation. Vorsätzlich blockiert Aserbaidschan den Latschinkorridor, die einzige Straße, die Armenien und Bergkarabach verbindet. Die humanitäre Katastrophe nimmt ihren Lauf: Es gibt einen ersten Hungertoten, einen massiven Anstieg von Fehlgeburten und enorme medizinische Versorgungsengpässe.
Obwohl Journalist:innen keinen Zugang zum betroffenen Gebiet haben, dringen Informationen über die katastrophale Lage über soziale Medien nach außen. Zahlreiche internationale Menschenrechtsorganisationen, Forscher:innen sowie der frühere erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, warnen vor einem neuen Genozid.
Tatsächlich weckt die Situation bei Betroffenen dunkle Erinnerungen an den „Aghet“, den Genozid an armenischen Christ:innen 1915, dem etwa 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Schon damals nahm das Deutsche Kaiserreich diesen in Kauf, als es auf der Seite des osmanischen Reiches stand. Nicht zuletzt deshalb mutet die Reaktion der Bundesregierung, genau genommen des Regierungssprechers Steffen Hebestreit, zynisch und geschichtsvergessen an. Warnungen vor einem erneuten Genozid bezeichnete dieser während einer Bundespressekonferenz als „Kampfbegriff“ und „Propaganda“ und leitete seine Antwort mit einem arroganten „Na ja“ ein.
Ein Skandal, doch angesichts der zahlreichen Aserbaidschan-Connections von über zwei Dutzend Abgeordneten aus allen Parteien und der Bezeichnung des Energielieferanten Aserbaidschan als „verlässlicher Partner“ durch Olaf Scholz nicht überraschend. Dabei sollte man aus der Erfahrung mit Russland gelernt haben, dass günstiges Öl und Gas nicht höher wiegen dürfen als der Schutz von Menschenrechten. Bis 2022 betrieb man entgegen allen Warnungen aus Ostmitteleuropa und der russischen Opposition Handel mit Putins fossiler Autokratie – den gleichen Fehler begeht man heute erneut. Mit Sanktionen oder Ähnlichem gegen Ilham Alijews Diktatur wird vorerst nicht zu rechnen sein. Den Preis zahlen die Armenier:innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style