Deutsche Siedler in der Republik Moldau: Dörfer, die nach Hoffnung klangen
Deutsche Siedler sollten die Region Bessarabien am Schwarzen Meer einst bewohnbar machen. Später fielen sie Stalins Deportationen zum Opfer.
Wo einst ein Haus stand, grasen nun ungestört Kühe. Gemeinsam mit Hühnern, Gänsen und Hunden übertreffen sie die Zahl der Dorfbewohner:innen. An diesem Morgen werkelt einzig Pjotr Feller in seinem Garten, der letzte Deutsche in Marianca de Sus.
Marianca de Sus liegt in der historischen Region Bessarabien im Südosten der heutigen Republik Moldau. Mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist der Landstrich in den öffentlichen Fokus gerückt: Eine halbe Stunde vom Dorf entfernt, östlich des Flusses Dnjestr, liegt das von Moldau abtrünnige Transnistrien. Russland hat seit 30 Jahren Truppen in dem international nicht anerkannten De-facto-Staat stationiert und versteht sich als regionale Schutzmacht.
Bessarabien war in der Vergangenheit schon häufig Schauplatz für Konflikte zwischen europäischen Großmächten. Die Bevölkerung war dabei nur Verhandlungsmasse. Je nach Machthaber wurden Menschen deportiert, fanden zeitweise Zuflucht oder eine neue Heimat. Darunter auch Zehntausende Deutsche.
Fruchtbare Steppe
Bis zum Zweiten Weltkrieg war für Marianca de Sus der deutsche Name Mariewka geläufig. Es war nur eines von Dutzenden Dörfern, die deutsche Siedler:innen in Bessarabien aus dem Boden stampften. Als das Gebiet am Schwarzen Meer nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1812 dem russischen Reich zufiel, war die fruchtbare Steppe als langjährige Pufferzone nur noch dünn besiedelt. Zar Alexander I. ersann einen Plan, nach dem deutsche Siedler:innen das Land wieder urbar machen sollten.
In Baden und Württemberg stieß er damit auf offene Ohren: Geschröpft von den napoleonischen Kriegen und den Anfängen der industriellen Revolution sowie diskriminiert wegen ihres protestantischen Glaubens machten sich Tausende auf den Weg. Mit der Aussicht auf ein eigenes Stück Land und Religionsfreiheit gründeten sie in ganz Bessarabien Siedlungen mit verheißungsvollen Namen wie Hoffnungstal, Pharanowka oder Neu-Paris.
Über welche Umwege Pjotr Fellers Vorfahren ins Russländische Reich kamen, kann er nicht mehr genau nachvollziehen. Durch den Hinterhof führt er vorbei an Gänsen und Hühnern in sein Haus. Der hellblau gestrichene Bau stammt noch aus den Anfangstagen des Dorfs Ende des 19. Jahrhunderts. Fließendes Wasser gibt es nicht – der Nuschnik, ein Plumpsklo, leistet immer noch seine Dienste.
Pjotr und seine Frau Lydia Feller bewohnen die drei Zimmer des Hauses mittlerweile alleine. Ihre Kinder und Verwandten haben das Dorf verlassen, gen Russland oder Deutschland. „Meine Familie kam 1963 aus Sibirien. Meine Urgroßmutter war nach dem Krieg zufällig hier gelandet und schließlich entschied mein Vater, dass wir alle herkommen sollten“, erklärt Pjotr Feller, während er alte Fotos und Postkarten aus einer Blechkiste in seinem Wohnzimmer zeigt.
Lachend kommt seine Frau hinzu und weist stolz auf die Kaffeedose in ihrer Hand, die einen deutschen Schriftzug trägt: „Selbst unser Kaffee ist hier deutsch!“
Sogenannte Auslandsdeutsche
Zu Hochzeiten lebten über 500 Menschen in Mariewka. In den 1920er Jahren entstand gar ein Ablegerdorf unter dem Namen Neu-Mariewka einen Kilometer weiter östlich. Nur wenige Jahre später waren die meisten Höfe verlassen und die Felder überwuchert. Während des Zweiten Weltkriegs war das strategisch günstig liegende Bessarabien – damals Teil des Rumänischen Königreichs – zum Spielball der Großmächte geworden.
In einem geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts ordneten Hitler und Stalin die Sphären ihres Einflusses in Osteuropa neu. Dabei wurde vereinbart, dass die sogenannten Auslandsdeutschen im Baltikum, der Westukraine und Bessarabien ins Deutsche Reich umgesiedelt werden sollten.
Für die Sowjets war damit der Weg frei, diese Territorien in die Union einzugliedern. Die Deportation Hunderttausender Deutscher aus Osteuropa propagierten die Nationalsozialisten unter dem Titel „Heim ins Reich“: Dabei wurden die „Auslandsdeutschen“ weder in offizielles Reichsgebiet umgesiedelt, noch war ihre Heimat so eindeutig – immerhin hatten die Familien teilweise schon mehr als ein Jahrhundert in Bessarabien gelebt.
Statt ins Reich kamen die meisten von ihnen ins besetzte Westpolen, wo sie ihre Pioniererfahrung in der Landwirtschaft einbringen sollten. Buchstäblich von einem Tag auf den nächsten ließen sie ihre akkurat bestellten Felder, Höfe und Tiere am Schwarzen Meer zurück – als Entschädigung winkten den Bessarabiendeutschen große Landgüter im Warthegau. Deren polnische Besitzer:innen kamen ins Konzentrationslager oder wurden zu Knechten gemacht.
In der heutigen Republik Moldau muss man genau hinschauen, um noch Spuren der deutschen Geschichte zu entdecken. Dorin Lozovanu, Geograf an der Akademie der Wissenschaften in Chișinău, hat zu den deutschen Dörfern im Land geforscht und sie kartografiert. Auf aktuellen Karten seien die ehemals deutschen Strukturen noch gut zu erkennen, sagt er.
Entstalinisierung
Deutsche Besiedlungen seien meist als strenges Straßendorf angeordnet worden, in dem die Höfe im gleichen Abstand von einer Hauptstraße abgehen. „Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden viele Dörfer einfach von der Landkarte; in anderen siedelten sich Menschen aus allen Teilen des Landes an“, sagt Lozovanu. Erst im Zuge der Entstalinisierung ließen sich auch wieder deutschstämmige Sowjetbürger:innen nieder.
Einer davon war Pjotr Feller. Seine Eltern waren Wolgadeutsche, die ursprünglich in der Westukraine lebten. Kurz nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 fielen sie als Angehörige der deutschen Volksgruppe der stalinistischen Deportationspolitik zum Opfer und wurden nach Sibirien geschickt. „Meine Familie sprach nie über die Deportationen. In Sibirien brachte mir aber meine Großmutter zumindest noch Deutsch bei. In Marianca de Sus wurde dann nur noch Russisch gesprochen“, sagt Feller.
Im Jahr 1963 durfte die Familie das Exil verlassen, kam aber nicht in die Westukraine zurück. Kein Einzelfall, erklärt Forscher Lozovanu: „In einigen Interviews, die ich mit deutschen Nachkommen geführt habe, war von der sogenannten Kilometerregel die Rede. Das heißt, die Menschen mussten in eine Gemeinde umsiedeln, die mindestens 50 Kilometer von ihrem eigentlichen Heimatort entfernt war.“ Die verlassenen und nur spärlich wiederbesiedelten ehemals deutschen Dörfer hätten sich dafür angeboten.
Neben den Fellers kamen noch weitere Familien mit deutschen Wurzeln aus der Verbannung nach Marianca de Sus. „Nach und nach reisten die Menschen aber Richtung Deutschland weiter“, sagt Pjotr Feller. Geht man mit ihm und seiner Frau durchs Dorf, sind die Leerstellen sichtbar. Von den meisten der einst über 80 Häuser ist nicht einmal das Fundament geblieben.
In den 90er Jahren seien Abbruchunternehmer gekommen, hätten unbewohnte Häuser bis zum letzten Stein abgetragen und als Baumaterialien weiterverkauft. An einem grasbewachsenen Hügel macht Lydia Feller Halt: „Hier war die Kirche, in der wir geheiratet haben.“ Heute verweilt dort eine Kuh zwischen zwei übriggebliebenen Betonsäulen.
Heute gehen Menschen den umgekehrten Weg
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erging es Marianca de Sus wie vielen Orten in der ländlichen Peripherie des unabhängigen Moldaus: Wer konnte, zog in die Großstädte oder gleich ins Ausland. Für den Forscher Lozovanu besteht darin ein Paradoxon der Geschichte: „Im 19. Jahrhundert kamen die Menschen aus Deutschland, Österreich und sogar der Schweiz, um ihr Glück in Bessarabien zu suchen. Heute gehen die Menschen den umgekehrten Weg.“
Darauf angesprochen, was ihn im Dorf hält, antwortet Pjotr Feller: „Ich bin der letzte Deutsche im Dorf. Es würde mich traurig machen, alles zurückzulassen. Andere gehen einfach, ich kann das nicht.“ Das Ehepaar bezieht eine kleine monatliche Rente vom Staat, ansonsten lebt es von dem, was es selbst anbaut. Die nächste Bushaltestelle liegt rund eine Stunde Fußweg entfernt im Nachbardorf Zaim.
An einer Stelle in Marianca de Sus werden die von den deutschen Siedlern angelegten Hofreihen von einem Pfad durchschnitten. Der Weg führt hinauf zum Friedhof – dem einzigen Ort im Dorf, der in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist. Die zahlreichen Grabsteine geben einen Hinweis auf die bewegte Geschichte und wechselnde Bevölkerungsstruktur.
Im vorderen Teil befinden sich Gräber aus der Zeit seit der Unabhängigkeit, teils mit Bilderreliefs und gepflegten Blumen. Dahinter folgen karge sowjetische Gräber, oftmals nur mit Kreuzen aus zwei verschweißten Aluminiumrohren verziert. Zuletzt liegen verwitterte Grabsteine über ein Feld verstreut. Auf einigen ist noch Frakturschrift zu erkennen: Daten um die Jahrhundertwende mit verblichenen Namen wie Wilhelm, Hermann und Margarete.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste