Deutsche Protestkultur: Magere deutsche Demos
Unsere französische Autorin geht seit ein paar Jahren auf deutschen Demos. Dabei hat sie immer wieder Heimweh – eine Liebeserklärung an das „Chaos“.
F rankreich hat drei Spezialitäten: Croissants, Wein und die Revolution. Während Deutschland die ersten beiden importieren konnte, ist der Geist des Letzteren noch nicht in den hippen Berliner Kiezen zu spüren. Dabei wären die wichtigsten Zutaten vorhanden: viele linke Menschen, eine Haushaltskrise – und arrogante PolitikerInnen. Und trotzdem: Deutsche Demos sind langweilig.
Wenn in Berlin demonstriert wird, dann ordentlich und behördlich angemeldet. Meistens beginnt der Anmarsch der Demozüge in deutschen Straßen erst nach der Anfangsrede, bei der lange herumgestanden werden muss. An den geplanten Haltestellen der Route wird gewartet. Und wieder wird lange am Mikrofon gelabert.
Auch bei den Protestveranstaltungen #unkürzbar gegen die Sparbeschlüsse des Berliner Senats klingen die gerufenen Parolen wenig leidenschaftlich. Es fehlen ohrenbetäubende Pfiffe, beißender Geruch von Rauchbomben und in Schleife gesungene Slogans zu geklatschten Rhythmen. Obwohl jeder schon weiß, warum er gekommen ist, haben tiefgründige Ansagen Priorität.
In Frankreich hingegen besteht die Kunst des sozialen Kampfes darin, kollektive Unzufriedenheit und Solidarität zur Schau zu stellen. Die französische Demonstration ist wie eine feierliche Tradition, die in jedem Alter praktiziert wird. Man lernt schnell, welche Gewerkschaft auf der Straße die besten Wege-Würstchen grillt, welcher Stand das billigste Bier oder den billigsten Kaffee hat und hinter welchem Orga-Pkw mit den besten Hits man mitlaufen sollte.
Demo muss Spaß machen
Bei den Demos gegen die Rentenreform 2022 machte die Aktivistin Mathilde Caillard aus Slogans Techno-Remixe. Heute ziehen Jugendliche tanzend hinter dem Wagen ihres DJ-Kollektivs auf Pariser Straßen wie auf einem fahrenden Rave. Demo muss Spaß machen. Denn um traurig zu sein, könnte man genauso gut zur Arbeit gehen.
Bei den letzten Demos in Paris vor wenigen Wochen schrieb die deutsche Presse von Chaos und Krawallen und fühlte sich an die Gelbwesten-Proteste erinnert. Einen Hauch chauvinistischen Stolzes können die Franzosen daraus ziehen, dass soziale Bewegungen in ihrem Land über die Grenzen hinweg für Lärm und Echo sorgen.
Was in Deutschland Chaos genannt wird, heißt im Frankreich Protestgeist. Genau das, was nicht geplant und angemeldet ist, muss stattfinden. Wenn der zum Beispiel von den Gewerkschaften geführte Zug an seinem Ziel ankommt, kann es bis in die Nacht mit einer „wilden Demo“ weitergehen – wie die Aftershow einer guten Party, nur meistens mit Polizeigewalt. Böse Karikaturen, grobe Slogans, Animositäten gegen politische Personen gehören zu jeder gewöhnlichen Demonstration: Hauptsache Provokation.
Damit wird auch das Erbe der Gelbwesten, der Bewegung Nuit debout, und einer Reihe sozialer Kämpfe, die lange vor dem berühmten Mai 68 begonnen haben, am Leben gehalten. Auch das gehört zur Widerstandsleistung gegen ein politisches System.
Und von einer Genossin zu den anderen: Deutschland sollte sich ruhig ein bisschen Chaos wünschen. Das ist doch die Essenz jeder guten Demonstration. Was nützt es, nach Disziplin zu suchen, wenn es darum geht, die bestehende Regierung zu stürzen? Proteste entsprechen im Grunde allem, was der typische Alman eben nicht ist: laut, störend, ungehorsam und ja, auch chaotisch. Denn wenn man an den Wahlurnen nicht gehört wird, dann eben auf der Straße.
Die deutschen Demonstrationen sind so unbewegt wie ihre Politikszene. Vielleicht wechseln die Franzosen ihren Premier jede zweite Woche, aber wenigstens wird es auf den Pariser Straßen nie langweilig. Letztendlich sind deutsche Demos wie das Croissant aus einer Berliner Bäckerei am Morgen. Es sieht ähnlich wie das Original aus, ist aber nicht fett genug.
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