Deutsch-afghanische Hochschulkooperation: Gefährliche Förderung
In Afghanistan sind Studierende und Wissenschaftler:innen, die mit deutschen Unis kooperiert haben, in Gefahr. Was ihnen jetzt helfen kann.
![Zwei Studentinnen bei einem Interview Zwei Studentinnen bei einem Interview](https://taz.de/picture/5071269/14/studieren-afghanistan-deutschland-uni-hochschulpolitik-gefahr-1.jpeg)
Doch nun muss Löwenstein tatenlos mitansehen, wie die Taliban nicht nur seine jahrelange Arbeit bedrohen, sondern auch die Menschen, die er ausgebildet hat. „Die Taliban haben längst die Hochschulen übernommen und erstellen Listen mit Dozenten, die im Ausland waren“, sagt Löwenstein am Telefon. „Ich habe E-Mails bekommen von Kollegen, die sich jetzt Bärte wachsen lassen und sich alle zwei, drei Tage ein neues Versteck suchen müssen.“
Löwenstein ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik an der Ruhr-Uni Bochum. Ein Institut, das etwas auf seine jahrzehntelangen Kontakte nach Afghanistan hält – und die Erfolge bei der Ausbildung afghanischer Wissenschaftler:innen. Seit ein paar Tagen jedoch findet man dazu kaum mehr Informationen.
Die Uni hat alles von der Website genommen, was ehemalige Studierende oder Kooperationspartner in Afghanistan gefährden könnte. Auch andere Unis sowie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) haben auf die Machtübernahme der Taliban reagiert und Namen und Fotos von ihren Websites genommen – und dem Auswärtigen Amt gefährdete Personen gemeldet.
Alle gefährdet, die mit westlichen Hochschulen kooperierten
„Wir müssen davon ausgehen, dass alle Afghanen und Afghaninnen gefährdet sind, die mit westlichen Hochschulen kooperiert haben oder in irgendeiner Weise durch diese gefördert worden sind“, sagt DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee der taz. Wie hoch deren Zahl ist, lässt ein Blick in die Statistik erahnen. Seit 2002 hat allein der DAAD rund 240 Lehr- und Forschungsprojekte von deutschen Unis mit afghanischen Partnerinstitutionen unterstützt sowie 1.100 Stipendien an afghanische Studierende und Promovierende vergeben.
Dazu kommen Tausende Austauschstudierende, die teils wieder in Afghanistan sind, sowie Afghan:innen, die vor Ort direkt für den DAAD gearbeitet haben. Allein im Jahr 2020 erhielten 633 Afghan:innen eine Förderung durch den DAAD.
Wilhelm Löwenstein, Ruhr-Uni Bochum
„Wir stehen seit Wochen im engen Austausch mit dem Auswärtigen Amt“, sagt Mukherjee. Wie viele Personen der DAAD als gefährdet gemeldet hat, möchte er nicht sagen. In mehreren Fällen wisse man, dass die Evakuierung erfolgreich war. Im Umkehrschluss heißt das aber: Der Großteil der gefährdeten Studierenden und Wissenschaftler:innen sitzt weiter im Land fest.
Für Löwenstein ist das schwer zu ertragen. Mit Beginn der Evakuierungen hat er die Daten seiner Kolleg:innen über den DAAD an das Auswärtige Amt weitergeleitet. Doch viele der Dozent:innen, die er ausgebildet hat und die nun auf der ominösen Ausreiseliste stehen, befinden sich nicht in Kabul. Sie sitzen in Masar-i-Scharif, Herat, Nangarhar oder Kandahar fest und hatten von vornherein keine Chance, evakuiert zu werden.
Bisher keine offizielle Visaregelung
Dass dies in der politischen Diskussion überhaupt keine Rolle spielt, macht Löwenstein immer noch fassungslos: „Keiner meiner Leute ist ausgeflogen worden“, sagt er. „Ich schäme mich dafür, dass wir unsere afghanischen Partner, die heute gefährdet sind, weil sie mit uns zusammengearbeitet haben, so im Stich lassen.“ Löwenstein fordert, dass nun alle ehemaligen Kooperationspartner, die es in ein Nachbarland an die Deutsche Botschaft schaffen, schnell ein Visum für Deutschland erhalten.
Eine offizielle Regelung gibt es dazu bislang nicht. Außenminister Heiko Maas (SPD) versprach am Montag, nun beginne die „zweite Phase“ der Hilfsaktion. Bis zu 70.000 gefährdete Afghan:innen wolle die Bundesregierung „so schnell wie möglich“ aufnehmen. Wie das konkret gelingen kann, ist aber unklar. Auch im Auswärtigen Amt heißt es dazu vage: „Dafür wird es Lösungen geben.“
DAAD-Präsident Mukherjee begrüßt Maas’ Bemühungen. Man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, dass deutsche Hochschulen weiter vor Ort wirken könnten, solange die Taliban an der Macht seien. Deshalb müssten die Bundesregierung und die deutschen Hochschulen schnell eine Strategie entwickeln, wie sie afghanischen Studierenden und Forschenden weiter zu Seite stehen könnten, so Mukherjee.
Beispielsweise sollten bestehende Programme für gefährdete Akademiker:innen von Bund und Ländern ausgebaut werden, schlägt der DAAD-Präsident vor.
Stipendienprogramme für verfolgte Wissenschaftler*innen
Eines dieser Programme, das gerade erst ins Leben gerufene und vom Auswärtigen Amt finanzierte Hilde-Domin-Programm für Studierende und Promovierende, könnte aufgestockt werden. „Dazu laufen gerade Gespräche“, sagt Mukherjee. Er hofft auf einen zügigen Beschluss des neu gewählten Bundestags. Dann könnten statt wie bisher geplant 50 vielleicht bald 100 Personen an deutschen Hochschulen aufgenommen werden.
Zudem gibt es mit dem Philipp Schwartz-Stipendium seit 2015 ein ähnliches Programm für verfolgte Wissenschaftler:innen. Über 300 Forscher:innen aus 22 Ländern sind damit an eine deutsche Hochschule gelangt.
Ins Leben gerufen wurde die Initiative vom Auswärtigen Amt und der Alexander von Humboldt-Stiftung unter dem Eindruck des syrischen Bürgerkriegs. Gerade werde geprüft, wie man angemessen auf die Lage in Afghanistan reagieren könne, teilt der zuständige Referent bei der Humboldt-Stiftung, Frank Albrecht, der taz mit.
Das Scholars at Risk Network, ein Netzwerk von über 500 Hochschulen aus 38 Ländern mit Sitz in New York, das sich für gefährdete Forscher:innen einsetzt, fordert ein gemeinsames Vorgehen der EU bei der Aufnahme von afghanischen Wissenschaftler:innen. Viele Hochschulen seien bereit, Forschende aufzunehmen, wenn die EU legale Einreisemöglichkeiten schaffe und die Finanzierung bisheriger Programme ausweite.
Bisherige Programme „nicht ausreichend“
Viele deutsche Hochschulen haben den Appell unterzeichnet. „Es wäre natürlich super, wenn diese wichtigen Programme auch auf europäischer Ebene laufen würden“, sagt eine zuständige Mitarbeiterin einer westdeutschen Hochschule, die anonym bleiben möchte. „Für Krisenfälle wie jetzt in Afghanistan sind die bisherigen Stipendienprogramme leider nicht ausreichend.“
So sieht das auch Wilhelm Löwenstein von der Ruhr-Universität Bochum. „Wer nicht zufällig schon in Deutschland war wie ein paar Promovierende an meinem Institut, hat sehr wahrscheinlich Pech gehabt.“
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