Der wandernde Kuchen: Wo ist eigentlich Hermann?
Der Kettenbriefkuchen Hermann war schon ein Community-Cake, als es das Netz noch nicht gab. Eine Wiederbelebung.
Hermann ist kein Name, Hermann ist eine Legende. Ein Casanova, der sich in den 1980er Jahren in die Herzen und Küchen vieler Frauen – und Männer – schlich. Etwas blass, schwabblig, mit strengem Geruch kam er daher. Kein Schönling, aber zäh und auf seine Art charmant. Meist tauchte er überraschend auf, blieb mehrere Tage, der Abschied war süß.
Heute ist er nur noch ein Abklatsch seiner selbst. Sein Name geistert durch Internetforen, beflügelt die Fantasie ehemaliger Liebhaber. Wer war er, dieser Hermann?
Hermann-Tagebuch, Tag 1: Hermann lebt. Wiedererweckt aus Mehl, Zucker, Wasser und Hefe, dümpelt er teigig weiß in einer Tupperschüssel. Nicht gerade sexy.
Tag 2: Hermann war den ganzen Tag allein. Er blubbert. Ist er beleidigt? Ein paar Schläge mit dem Kochlöffel, dann ist Ruhe.
Hermann ist ein Sauerteig. Zehn Tage wächst er heran: isst, ruht, möchte immer wieder umgerührt werden. Er endet als Kuchen. Mit Kirschen, Äpfeln, Marzipan, Rumaroma, Schokostreuseln, ganz nach Geschmack. Zuvor aber wird er in vier gleiche Teile geteilt. Einer wird gebacken, die anderen drei, die sogenannten Hermannkinder, bekommen Freunde – oder Feinde. Das Ritual beginnt von vorn.
„So lala“ oder „verdammt lecker“
Die taz hat ihre Leser auf Facebook gefragt, ob sie sich an Hermann erinnern. Die Reaktionen: überwältigend. Es sind vor allem Frauen, die antworten, weil ihnen „das Herz aufgeht“, wenn sie nur den Namen hören. Andere klingen ernüchtert und finden: „Hermann ist der überschätzteste Langweiler unter den Kuchen. Wie der Dreamboy, den alle Mädchen toll fanden und der heute einfach nur eine arme Suppe ist.“ Die Meinungen reichen von „abscheulich“ über „so lala“ bis zu „verdammt lecker“.
Manche Begegnung mit Hermann verlief kurz und tragisch. Ein taz-Leser erinnert sich an Kannibalismus in der eigenen Familie: Er hatte Hermann in der Grundschule kennengelernt, mit nach Hause gebracht, gepäppelt und gepflegt. Bis zu jenem Morgen, als er in die Küche kam, der Freund verschwunden war. Der Vater hatte den Teig auf der Suche nach einem Betthupferl mit Quarkspeise verwechselt und komplett ausgelöffelt. Magenprobleme bekam er keine, dafür einen aufgelösten Sohn.
Tag 3: Hermann sitzt den ganzen Tag im Kühlschrank. Keinen Hunger. Angeblich. Unternehmungen? Sind ihm zu anstrengend. Ein echter Entertainer eben.
Tag 4: Schlechte Stimmung. Hermann ist sauer, riecht man auch. Verlässt den Kühlschrank quasi nur noch, um sich kurz unterpflügen zu lassen. Mitunter stellt einen die Beziehung zu Hermann vor ein moralisches Dilemma. Eine Veganerin fragt, ob er ihr zuliebe wohl auf Milch verzichten kann. Ein Fall für die Expertin. Stefanie Herberth ist Biologin und betreibt den Blog „Hefe und mehr“. Auf Anfrage der taz begann sie, einen eigenen Hermann zu züchten – und fand heraus, dass man die Milch durch Wasser ersetzen kann.
Leben mit Milchsäure
Das Geheimnis des Teiges ist laut Biologin eine alkoholische Gärung. Die Hefe wandelt den beigesetzten Zucker in Alkohol und Kohlenstoffdioxid um. Ist das Gefäß mit Hermann luftdicht verschlossen, kann es passieren, dass er früher oder später den Deckel durch den Kühlschrank katapultiert – dann ist ein Teil des Gases entwichen. Kurz: Hermann hat Blähungen. Milchsäurebakterien arbeiten sich ebenfalls am Zucker ab. Milchsäure entsteht und hält den Teig am Leben – auch ohne die Zugabe von Milch. Und die schlechte Nachricht? Siedeln sich aufgrund des hohen Alkoholgehalts Essigsäurebakterien in ihm an, riecht und schmeckt der Teig wie Essig. Weil die Bakterien Wärme lieben, empfiehlt Herberth, ihn kühl zu lagern.
Tag 5: Nach tagelangem Schweigen heute ein gemeinsames Essen. Hermann verschlingt nur Mehl, Unmengen Zucker und stürzt ein Glas Milch hinunter. Wirkt gleich einige Gramm schwerer.
Tag 6: Ist ihm das Essen nicht bekommen? Er wirkt aufgedunsen, schwer und behäbig. Irgendwie auch zufrieden.
Wer dem Teig seinen Namen gab, ist nicht überliefert. Fest steht, er hat noch einen Verwandten in den USA: das Amish Friendship Bread. Vielleicht der Ur-Hermann. Es ist süßer als sein deutscher Enkel und war angeblich ursprünglich als milde Gabe für Bedürftige gedacht. Hermann heißt auch mal Vatikanbrot oder Glückskuchen. Vielleicht war es aber gerade der männliche Vorname, der ihm das Überleben sicherte. Eine taz-Leserin schrieb auf Facebook: „Er hat mir damals richtig Stress gemacht, diese Fütterei und dann das Backen“. Eingehen lassen konnte sie ihn trotzdem nicht, „weil er ja einen Namen hatte. Ich habe meine damaligen Mitmieter verflucht, dass sie ihn mir einfach vor die Tür gestellt hatten.“
„It’s called Hermann“
Tag 7: Wohl eine Magenverstimmung, Hermann bläht sich gefährlich auf. Suche vorsichtshalber Deckung.
Tag 8: Auf sich allein gestellt, überlebt Hermann nicht. Also muss er mit auf Reisen. Widerwillig tauscht er Kühlschrank gegen Autorückbank. Mault, ihm sei zu warm.
Hermann breitete sich vor 30 Jahren invasiv aus. Kaum ein Kühlschrank, in dem er nicht schwabbelte. Wie ein taz-Leser feststellen musste, wanderte der Kuchen nicht nur von Haushalt zu Haushalt, sondern auch über Ländergrenzen hinweg. Er war mit seiner Familie in Schottland unterwegs. In einem kleinen Café verköstigte die Wirtin sie mit Scones, englischem Teegebäck. Und hatte noch eine Überraschung parat. Ein ganz neues Rezept aus Deutschland, wie sie betonte: „It’s called Hermann the friendship cake.“
Die Mütter, deren Töchtern Hermann schöne Blasen machte, standen ihm meist skeptisch gegenüber. taz-Leser berichten, wie sie heimlich versuchten, den Kuchenteig zu entsorgen. Vielleicht sind seine Nachkommen deshalb nach Schottland ausgewandert. Aber auch die größten Fans hatten irgendwann genug. Dumm sei gewesen, erinnert sich eine Leserin an ihre Schulzeit, wenn man den dritten Tag hintereinander Hermann in der Brotdose gefunden habe. „Man konnte nicht mal ein Stück Kuchen gegen Käsebrot tauschen – die anderen hatten ja auch nur Hermann.“
Kirschkuchen mit Schokostreuseln
Wer es nicht über sich brachte, den Dauergast zu meucheln, konnte ihn einfrieren – in der Hoffnung, ihn später zu backen oder für immer zu vergessen. In manchem Tiefkühlfach vegetiert womöglich noch immer ein Hermann vor sich hin.
Tag 9: Hermann im Auto vergessen. Richtig dicke Luft. Im Kühlschrank schmeißt er mit seinem Deckel um sich. Tauche ab, bis sich die Lage entspannt.
Tag 10: Es ist aus. Hermann verkrümelt sich. Kirschkuchen mit Schokostreuseln, säuerliche Note. Lecker!
Hermann ist eine Legende – und ein Märchen. Die enden meist mit „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. Mit ihm ist es ähnlich. Hefe-Expertin Herberth verrät: „Wenn so ein Teig gut gepflegt wird, kann er ewig leben.“ Hermann forever!
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