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Der spröde Reiz des Verfalls

Portos Geschichte steckt in einer Flasche, denn der süßliche Portwein brachte der Stadt einst Wohlstand. Eine Weinprobe

von ROLAND MOTZ

Verkehrschaos. Hupen, Lärm, Gestank. Immerhin leben eine Million Menschen im Großraum Porto. Ein Industriegürtel umschließt die Stadt am Douro mit ihren 350.000 Einwohnern. Und täglich schieben sich die Autokarawanen im Kreisverkehr an der Avenida da Boa Vista aus sieben Richtungen zu einem zähen Brei zusammen.

Doch hat man sich erst einmal in den verwinkelten, steilen Gassen mit ihren vielgeschossigen, an den Hang gewürfelten Häusern aus grauem Granit verloren, entstehen Bilder von großer Eindringlichkeit. Eine sanfte Melancholie, ein morbider Charme, ein spröder Reiz von Aufbruch und Verfall begleitet uns in der Altstadt, die 1996 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Winzige Balkone mit verspielten Eisengittern, Blumenkästen vor abbröckelnden Fassaden, marode Dächer über uralten Jalousien, in denen Tauben nisten. Hin und wieder ein ockergelber Fleck in dem Wirrwarr von Treppen, Höfen, winzigen Plätzen und Arkaden, die sich zur Kathedrale hochstapeln: ein frisch renoviertes Haus, in das ein Atelier, ein Architekt oder ein Künstler eingezogen ist.

Über der Ribeira weht ein frischer Wind. Und dennoch liegt die Faszination im vergänglichen Alten, das sich unbehelligt von Abrissbirnen und Luxussanierung durch die Jahrhunderte geschleppt hat. Zugegeben, wir sind Touristen und müssen nicht in den oft maroden, schlecht isolierten Häusern wohnen, durch deren wacklige, undichte Schiebefenster, die sinnigerweise „Guillotinefenster“ genannt werden, im Winter ständig Feuchtigkeit eindringt.

Wir sitzen stattdessen im feinen Restaurant Tonho an den frisch restaurierten Kaianlagen Cais da Ribeira, verschmähen die Kutteln, auf die die Portuenser so stolz sind, dass sie sich selbst „Tripeiros“ (Kuttelesser – von tripas) nennen, essen stattdessen das Fischnationalgericht bacalhao und schauen im Nieselregen auf die grazile eiserne doppelstöckige Ponte de Dom Luis’ I. aus dem Jahr 1886.

Aus dem Douro, so lässt uns der portugiesische Autor Helder Pacheco in seiner essayistischen Beschreibung Portos wissen, soll der Bootsmann Duque im Laufe seines Lebens die Leichen von mehr als 700 Selbstmördern gezogen haben, die sich von der mehr als sechzig Meter hohen Brücke, unter der jetzt der Flussnebel aufsteigt, in die finstere Tiefe gestürzt hatten. Ja, es gibt ihn oft in den langen Wintermonaten in Nordportugal, den traurigen Nebel, begleitet von einem nicht enden wollenden Nieselregen, der vielleicht mit dazu beigetragen hat, dass die Portugiesen eine der höchsten Selbstmordraten der Welt haben.

Auf der anderen Seite des Douro, im Viertel Vila Nova de Gaia, lagern die Fässer mit dem „Trockner des traurigen Nebels“. Die flachen, hölzernen alten Flussboote, mit denen noch 1963 der Wein von der spanischen Grenze flussabwärts nach Porto geschifft und in die Kellereien am Flussufer gebracht wurde, liegen vertäut als schwimmende Denkmäler und Reklametafeln der berühmten Portweinfirmen Sandemann, Osburne, Cockburn, Graham, Cálem u. a. im Douro. Portos Geschichte steckt in einer Flasche, könnte man behaupten. Schon die Römer hatten den Portus Cale, den guten Flusshafen an der Atlantikmündung, für sich entdeckt, aber erst die Engländer brachten im 18. Jahrhundert mit ihrer Vorliebe für den süßlichen Portwein beträchtlichen Wohlstand über die Stadt.

Achtzig Kilometer flussaufwärts gedeihen die Trauben noch immer an den vor Kälte und atlantischer Feuchte geschützten warmen Schieferhängen des Douro. 200 Liter fasst das größte Fass im Stammhaus von Cálem. Es ist hundert Jahre alt, aus französischer Eiche und verrichtet nach wie vor seinen Dienst. Das Traditionsunternehmen Cálem, das den Portwein im 19. Jahrhundert bis nach Brasilien schipperte und sich dafür mit Edelhölzern bezahlen ließ, beschäftigt heutzutage siebzig Angestellte und produziert 3 bis 4 Millionen Liter pro Jahr. Zwei Jahre reift der Portwein im Fass, nachdem die Gärung zuvor im richtigen Moment – ein streng gehütetes Geheimnis – durch einen Schluck Branntwein unterbrochen wurde. Dann erst wird er auf Flaschen gezogen und darf sich nach zehn- bis zwölfjähriger Lagerzeit „Vintage“ (so heißt die höchste Qualitätsbezeichnung) nennen, wenn nur Trauben eines einzigen Jahrgangs bei der Herstellung verwendet wurden. Der Wein aus weißen Trauben wird mit zunehmendem Alter dunkler, der rote heller. Auch das erfahren wir von der Pressereferentin Sandra Cruz bei der ausgiebigen Weinprobe nach der Führung durch die schummrige Kellerwelt. Ein Großteil des Exports geht nach Dänemark und Frankreich. Der Preis von knapp 200 Mark für eine Flasche guten Portweins im Verkaufsraum nebenan bringt uns dann doch ein wenig aus unserer guten, weinseligen Fassung.

Wir schlendern über die lang gestreckte Praça da República im alten Geschäftszentrum zum Bahnhof São Bento. Die Halle des prachtvollen Bahnhofs aus dem Jahr 1915 ist eine viel fotografierte Sehenswürdigkeit. Blauweiße Kachelfriese erzählen in zahlreichen Bildern vom früheren Leben zwischen den Flüssen Douro und Minho, aber auch die Geschichte der Mobilität vom Rad bis zur Eisenbahn wird auf den insgesamt 20.000 azulejos, wie die Kacheln genannt werden, unter dem filigranen Dach des Jugendstilbaus mit seinen offenen Portalen dargestellt. Nur zu gerne hätten wir uns in einen der schnuckeligen Vorortzüge zu den immer erstaunlich gelassen wirkenden Portuensern gesetzt oder gar in den Schnellzug nach Lissabon, um auf diesem Wege Porto wieder zu verlassen. So aber steigen wir die wenigen Schritte zum Bischofspalast hinauf, blicken durch diesige Nebelschleier und Regenböen auf die tief unten im Fluss verankerten schaukelnden Holzbarken und verabschieden uns von der Stadt am Douro mit dem Fazit: Außen schrecklich, innen schön.

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