: Der letzte Aufstieg liegt noch vor ihm
An diesem Wochenende wird Cem Özdemir offiziell grüner Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Baden-Württemberg. Ist der Realpolitiker mit der Aufsteigerbiografie der Richtige in schlechten Zeiten für seine Partei?

Aus Bad Urach und Karlsruhe Benno Stieber
Cem Özdemir steht breit grinsend in jener Stadthalle, in der er vor über 50 Jahren mit anderen „Türkenjungs“ beschnitten wurde. Er trägt eine Marschtrommel vor dem Bauch und schlägt im Takt inmitten der örtlichen Landsknechtskapelle. An diesem Abend wird Özdemir zum Ehrenbürger seiner Heimatstadt Bad Urach ernannt. Trommeln im Fanfarenzug sei als Kind immer sein Traum gewesen, sagt er. „Nur einen schöneren Job kann ich mir noch vorstellen.“ Vielsagendes Lächeln; klar, was gemeint ist. Müsste man die Geschichte vom Gastarbeiterjungen, der nun baden-württembergischer Landesvater werden möchte, zu einem Bild kondensieren, dann wäre es das vom strahlend trommelnden Özdemir.
Die perfekte Inszenierung. Es ist natürlich kein Zufall, dass sie im Herbst 2024 direkt nach seiner Bewerbung für die Spitzenkandidatur ausgerollt wird. Aber wie alle guten Erzählungen hat sie einen wahren Kern. Man muss nicht die etwas ausgeleierte Formel vom „anatolischen Schwaben“ bemühen, aber Özdemir ist als Außenseiter in dieser urschwäbischen Stadt aufgewachsen. Wie vielleicht Millionen Einwanderer hat er alles getan, um Teil dieser Gesellschaft zu sein. Daraus leitet sich fast alles ab, was er politisch will und vertritt.
Im März 2026 will er also Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Dafür wird die Landespartei ihn an diesem Wochenende mit einem glänzenden Ergebnis zum Spitzenkandidaten küren. Schon seit dem letzten Wahlsieg von Winfried Kretschmann im März 2021 ist das der lange und nur notdürftig gehütete Masterplan. Einen besseren könnten sie gar nicht kriegen, sagen fast alle in der Landespartei.
Doch inzwischen geht es mit den Grünen bundesweit bergab. Selbst in Baden-Württemberg, wo sie Kretschmann mehr als solide durch die diverse Krisen gesteuert hat, liegt die Partei in aktuellen Umfragen über 10 Prozentpunkte hinter der CDU. Laut einer Befragung des SWR wünscht sich die Mehrheit wieder einen CDU-Landesvater, selbst wenn sie den Unionskandidaten Manuel Hagel kaum kennt.
Den Cem, den kennt man dagegen seit über 25 Jahren: Ende der 1990er als Politikneuling mit türkischen Wurzeln und beeindruckenden Koteletten in der alten Bundeshauptstadt Bonn; Anfang der 2000er als zerknirschten Bonusmeilentrickser; nach dem Comeback als Kreuzberger Politpromi mit Glamourfaktor; dann in der Rolle des von Flügelkämpfen zermürbten Vorsitzenden seiner Partei; als glänzenden Redner im Parlament; als Verfechter von Grund- und Menschenrechten gegenüber dem türkischen Potentaten Erdoğan wie auch der AfD; als einen, der als seinen größten Erfolg die Erklärung des Bundestags zum Völkermord an den Armeniern nennt; und jüngst als Landwirtschaftsminister in der glücklosen Ampel.
„Sie kennen mich“, könnte er den Wählern einfach zurufen, wie es erst Angela Merkel und dann Winfried Kretschmann im Wahlkampf getan haben. Aber die Wahl des prominenten Realos ist keineswegs ein „gemähtes Wiesle“, wie man hier so sagt. Eher fragt man sich in diesen Zeiten der allgemeinen Unsicherheit und des Einwanderungsrollbacks: Ist der Kandidat Özdemir den Baden-Württembergern im Vergleich zum bodenständigen Kretschmann und zum biederen CDU-Kandidaten Hagel nicht irgendwie zu multikulti, zu gewagt, zu weltläufig?
Bisher hatte er in der Politik eigentlich eher das gegenteilige Problem. In seiner Partei finden sie ihn schon immer zu glatt, zu angepasst – das werfen Bürgerkinder ehrgeizigen Aufsteigern ja gerne vor. Özdemir hat seine Aufsteigergeschichte oft erzählt, in Büchern und auch in Reden. So oft, dass man sie fast schon wieder vergessen hat: Kind von zwei türkischen Einwanderern, die sich in Bad Urach kennengelernt haben. Die Mutter betreibt in der Altstadt eine Schneiderei, an den Fenstern des Hauses klebt auch heute nach dem Tod der Eltern noch der rote Schriftzug „Änderungsschneiderei Özdemir“. In der Schule wird Cem wegen seiner Herkunft und des schlechten Deutschs gehänselt, verprügelt und von Lehrern gedemütigt. Er tut sich mit den wenigen anderen „Ausländerkindern“ seiner Stadt zusammen. Seine Noten sind schlecht, ein Lehrer lacht ihn vor der Klasse aus, als er sagt, er wolle aufs Gymnasium. Besser wird er erst, als er Nachhilfe von einer Kundin von Mutters Schneiderei bekommt. Özdemir arbeitet sich aus der Hauptschule hoch, auf dem zweiten Bildungsweg studiert er schließlich Sozialpädagogik. Er kämpft sich durch die Schikanen der türkischen Bürokratie, damit er Deutscher werden kann. Er kennt dieses Deutschland, von außen und von innen.
Diese Geschichte, die dem Politprofi Streetcredibility verleiht wie kaum einem im Stuttgarter Politikbetrieb, werden er und sein Team im Wahlkampf in den Vordergrund stellen. Er kann eine Identifikationsfigur sein für Menschen mit Migrationshintergrund. Stärker als der sozialpolitisch wenig interessierte Kretschmann wird Özdemir wohl Antworten auf die Frage suchen, wie so eine Cem-Story im Baden-Württemberg der 2020er weiterhin möglich ist.
Aber reicht das angesichts des großen Vorsprungs der CDU und des allgemeinen grünen Verdrusses? „Das Rennen ist offen“, sagt Vorgänger Kretschmann und nennt es die bundesweit wichtigste Wahl für alle Grünen im nächsten Jahr.
Er fürchte ja, dass ein Kandidat bei den baden-württembergischen Wählern immer noch auf Vorbehalte stoße, wenn er Özdemir heiße und nicht Kretschmann oder Müller – damit sprach der ehemalige grüne Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon schon vor Monaten aus, was viele hinter vorgehaltener Hand sagen. Özdemir aber glaubt, sein Land sei weiter. Er sagt, er habe kein Rückfahrtticket in die Bundespolitik. Im Fall einer Niederlage wird er dann wohl Landesminister oder schlimmstenfalls Fraktionschef. Für einen Bundespolitiker eigentlich Kreisklasse.
Aber politische Rückschläge und Ablehnung kennt der 60-Jährige. 1981 tritt er als Jugendlicher den Grünen bei und gründet in Bad Urach gleich seinen eigenen Ortsverband. Schon als Schüler setzt er sich für Umwelt- und Naturschutz und den öffentlichen Nahverkehr ein. Er ist Vegetarier, lange bevor das hip ist. Aber das Kind von türkischen Einwanderern bleibt auch in seiner Partei ein Exot. Die SPD bietet ihm ein Stadtratsmandat an, er überlegt, die Grünen zu verlassen. Rezzo Schlauch, so erinnern sich beide, wäscht ihm gehörig den Kopf. Özdemir bleibt, wird in den Landesvorstand gewählt und macht später in Berlin mit Migrationsthemen Karriere. Dabei erhält er viel Aufmerksamkeit in den Medien. Doch die Ausländerbeauftragte der rot-grünen Schröder-Koalition wird Marieluise Beck. Auch bei den Grünen machte man damals eher Politik für als mit Ausländern, resümiert Özdemir.
Nach einer Affäre um dienstlich gesammelte, aber privat genutzte Bonusmeilen büßt Özdemir härter als andere, die das Gleiche getan haben. Er scheidet aus dem Bundestag aus, geht ein Jahr mit einem Stipendium in die USA und danach ins Europaparlament. Den Parteivorsitz übernimmt Özdemir 2008 mit einigem Zögern, als ihn Joschka Fischer dazu drängt und Boris Palmer abwinkt. Noch als designiertem Vorsitzenden verweigert die Landespartei ihm 2008 einen sicheren Listenplatz für den Bundestag, weil sie die Trennung von Amt und Mandat wichtiger findet. Zehn Jahre bleibt Özdemir an der Parteispitze, 2017 verhandelt er hartnäckig über eine Jamaikakoalition, die dann die FDP platzen lässt.
2021 in der Ampelkoalition wird Annalena Baerbock Außenministerin, der Job also, der immer Özdemirs Traum war. Er muss sich als Minister nun um die Landwirte kümmern. Die ökologische Bilanz des fachfremden Ministers sei mau, kritisieren Umweltverbände. Immerhin, er führt ein Tierwohllabel ein. Man kann vermuten, dass er es sich mit Blick auf seine Ambitionen in Baden-Württemberg nicht mit der ländlichen Bevölkerung verderben will.
Als dann die Traktoren rollen, weil Habeck, Lindner und Scholz die Dieselsubventionen kürzen, ohne den Landwirtschaftsminister bei der Entscheidung miteinzubeziehen, läuft Özdemir zur Hochform auf. Vor allem in Baden-Württemberg stellt er sich im kalten Winter stundenlang auf Traktoranhänger und debattiert mit den Bauern. Debatten, die mit Buh und Geschrei beginnen und meist mit zumindest respektvollem Applaus enden. Da ist einer, der sich stellt, obwohl er die Entscheidung für falsch hält. Vielleicht wählen sie ihn deshalb nicht gleich, aber zumindest ist er für sie nicht das grüne Schreckgespenst, das Christian Lindner und Markus Söder von ihm zu zeichnen versuchen.
Annalena Baerbock und Robert Habeck, die Hoffnungsträger der Grünen, sie sind weg aus der ersten Reihe. Cem Özdemir ist noch da. Wie immer. Nachdem er nicht mehr Minister ist, hält er sich medial zurück. Das raten ihm alle. Ein paar Vor-Ort-Termine mit und ohne Kretschmann, das Team aufstellen. Winfried Kretschmanns Pressesprecherin hat ihren Beamtenstatus aufgegeben, um ins Team Özdemir zu wechseln. Alte Realomitstreiter bis hin zum Ex-Grünen Boris Palmer geben Rat und netzwerken im Hintergrund. Bloß nicht voreilig starten und dann verschleißen. Der Wahlkampf beginnt noch früh genug, sein Ausgang ist offen – für Özdemir und für die Grünen.
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