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Der kleine Friede von Lukavac

Die bosnische Armee hat im Ozrengebirge bei Tuzla von Serben besetzte Gebiete zurückerobert. Jetzt kehren die Flüchtlinge zurück.  ■ Aus Lukavac Erich Rathfelder

Der Blick über den See hin zu den bläulich schimmernden Bergen weckte vor Wochen noch gemischte Gefühle. Denn dort in den Wäldern des Ozrengebirges waren die Artilleriestellungen der serbisch-bosnischen Armee aufgebaut: die weitreichenden 155-mm- Kanonen, die das 10 Kilometer entfernte Tuzla erreichen konnten oder die kleineren Haubitzen, die auf diese Seite des Sees gerichtet waren. Die liebliche sattgrüne Landschaft konnte noch vor kurzem plötzlich zur Hölle werden.

Doch jetzt ist Frieden in der Region um die Stadt Lukavac eingekehrt. Spaziergänger schlendern an dem See entlang, Angler haben ihre Ruten ausgelegt und hoffen auf den großen Fang. Dies ist nicht einmal unrealistisch, denn in dem acht Kilometer langen und zwei Kilometer breiten Stausee tummeln sich allerlei Fische, die sich in den letzten Jahren gerade wegen der Gefahren für die Menschen fleißig vermehren konnten. „Ach, ist das ein schönes Gefühl, hier im Garten des Cafés zu sitzen, den Blick zu genießen und keine Angst mehr zu haben!“

Fadila Majkić ist Lehrerin und kam noch vor dem Krieg aus Sarajevo nach Lukavac, der rund 30.000 Einwohner zählenden Industriestadt, in der Soda und Schuhe produziert, Kohle und Eisenerze gefördert und verhüttet wurden. „Unsere Armee hat am 25. Mai alle Höhenzüge des Ozrengebirges dort drüben zurückerobert.“ Die junge Frau lacht. „Das ging ruck, zuck. Die haben wohl nicht damit gerechnet, daß die bosnische Armee dazu in der Lage ist.“ Ekrem F. hat damals mitgekämpft. „Wir hatten eine große Wut im Bauch“, sagt er. Denn am 23. Mai war eine Granate im Zentrum Tuzlas eingeschlagen. Direkt an der Stelle, wo vor einem Café Hunderte von jungen Leuten standen, Musik hörten, sich unterhielten, lachten und flirteten. Die Granate tötete damals 70 Menschen und verletzte Dutzende. „Das Platz war übersät von Leichenteilen, wir wateten durch Blut, als wir die Verletzten bergen wollten. Es war schrecklich.“ Ekrem nippt an seinem Kaffee. Und er deutet auf einen der Berge des Mittelgebirges. „Von dort aus wurde damals geschossen.“

Die Straße schlängelt sich am See entlang, um schließlich einen Damm zu erreichen, der zum anderen Ufer führt. Schmucke Häuser stehen hier, umgeben von hohen Bäumen und etwas verwilderten Gärten. Rosen umranken Zäune, Efeu bedecken Mauern der halbzerstörten Häuser. Überall quirlt das Leben, Kinder spielen auf den Straßen und am Wandrand, Straßen werden aufgerissen und Leitungen verlegt. „Das hier war auch vorher freies Territorium, aber die Frontlinie war nahe und ein normales Leben nicht möglich. Doch jetzt lohnt sich die Arbeit wieder“, sagt Ekrem F.

Schließlich erreichen wir den Wald. Im Schatten der Buchen sind die Gräben und Befestigungen der serbisch-bosnischen Armee gut zu erkennen. Hier verlief die Frontlinie. Ekrem deutet auf einen Hochstand, von dem ein Scharfschütze auf die Menschen im Ort geschossen hatte. „Den hier haben wir am 25. Mai in fünf Minuten umstellt und die Stellung genommen.“ Steil führt die Straße den Berg hinauf, Serpentine um Serpentine gewinnen wir an Höhe. Plötzlich ist der Blick freigegeben auf die Höhenzüge ringsumher, die bis zu 900 Meter erreichen, auf die von Blumen übersäten Wiesen und ein Dorf, das in der Ferne zum Besuch lockt.

Sead M. lädt gerade Heu auf einen Leiterwagen. Über das faltige Gesicht des etwa 50jährigen Mannes huscht ein Lächeln, als er gefragt wird, ob er einer der Rückkehrer in dem Dorf sei. Er deutet auf das von Bäumen verdeckte Haus und lädt zum bosnischen Kaffee ein. Beim Näherkommen entpuppt sich das Haus als Ruine. „Als sie im Mai 1992 kamen, hatten wir gerade das Abendessen angerichtet. Wir hörten die Schüsse am anderen Ende des Dorfes. Da haben wir, meine Frau und die zwei jüngsten Töchter, nur ein paar Kleider, die Papiere und die Wertsachen in das Auto geworfen und sind runter zum See gefahren.“

Sead M. und seine Familie haben Glück gehabt. Sie sind mit dem Leben davongekommen. Anderen im Dorf ist es schlimmer ergangen. Einige Männer wurden gefangengenommen, Frauen und Kinder in einem Bus abtransportiert. „Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist.“ Die Häuser der hier lebenden Muslime wurden in die Luft gejagt. „Sie haben Phosphorbomben benutzt.“ Er deutet auf die Rußflecken oberhalb der ausbrannten Fensterhöhlen, die typische Merkmale für Phosphorbomben sein sollen. In den Innenräumen wachsen Pflanzen, vom Dach ist nichts mehr zu sehen.

„Alles wurde geraubt, alles wurde zerstört. Wir hatten 20 Jahre in Deutschland gearbeitet und dieses Haus neu gebaut. Das alte hatte ich abgerissen. Mit der Rente und der kleinen Landwirtschaft hätten wir gut leben können.“ Jetzt hat Sead einen Raum wiederhergerichtet, mit Plastikbahnen ein Dach über diesem Teil des Hauses konstruiert und einen Ofen herangeschafft.

„Wir leben immer noch unten in der Stadt“, sagt seine Frau Vesna, eine praktisch veranlagte Mitvierzigerin, deren Hände zeigen, daß sie zuzupacken versteht. Sead und Vesna waren als Flüchtlinge in den ehemaligen Baracken von Kontraktarbeitern der Kohlenmine untergebracht. Während der letzten drei Jahre nur herumzusitzen, lag ihr nicht. So half sie bei der Betreuung anderer Flüchtlinge mit, machte sich nützlich, wo es ging, half bei der Verteilung von Lebensmitteln bei der Caritas. „Ich bin ja Katholikin, nur mein Mann ist Muslim“, erklärt sie. In den Baracken sind jetzt 3.000 Flüchtlinge aus Srebrenica untergebracht.

Wieder auf dem eigenen Grund und Boden zu stehen, macht dem Ehepaar sichtlich Freude. Doch ob sie Kraft haben, noch einmal von vorne anzufangen, bezweifeln sie selbst. Ein paar Hühner und eine Ziege haben sie sich schon wieder angeschafft, im provisorisch hergerichteten Stall wird bald auch eine Kuh stehen. Sie hoffen, daß ihre Söhne irgendwann aus der Armee entlassen werden. „Dann werden die hier zupacken.“

Auch an anderen Häusern wird gearbeitet. Und auf den Feldern wird gepflügt. In manchen Gärten wächst schon wieder Gemüse, Tomaten, Gurken und Salat. Die Straße führt weiter hinauf zum Kohlebergwerk. Noch dürfen wir es nicht betreten. Soldaten lungern herum und warten auf einen Lastwagen. „Wir haben den größten Teil des Geländes entmint. Jetzt soll die Drahtseilbahn repariert werden.“ Denn die Kohle wurde mit einer Drahtseilbahn nach Lukavac transportiert. In den Gondeln schwebte das schwarze Gold den Berg hinunter über den See zur Weiterverarbeitung in die Hüttenanlagen der Stadt.

Daß das Bergwerk zurückerobert wurde, freut alle besonders. Die Soldaten deuten auf die umliegenden Höhenzüge, dieser Berg dort sei nun auch frei, dort hinten verlaufe jetzt die Frontlinie. Und ganz am Horizont, so bedeutet einer, stehe schon das bosnische Armeekorps von Zenica. „Bald haben wir das gesamte Ozrengebirge zurückerobert.“ Schritt für Schritt werde man vorgehen und vorsichtig, die Verluste sollen gering gehalten werden. Ungefähr 60 „Tschetniks“ seien bei der Aktion gefallen, die eigenen Verluste beliefen sich auf drei. „30 Quadratkilometer wurden hier befreit.“

Ekrem F. spricht sich gegen die Vertreibung serbischer Zivilisten aus. „Unsere Regierung hat alle Serben zum Bleiben aufgefordert. Sie sind Bosnier wie wir. Die Kriegsverbrecher werden allerdings bestraft.“ Doch die „Karadžić-Behörden“ hätten die Zivilisten aus dem Ozrengebiet evakuiert. Nur noch die serbisch-bosnische Armee befände sich jetzt auf der Gegenseite. „Irgendwann werden die serbischen Familien zurückkommen, wenn endlich Frieden ist. Wir müssen aber unser Bosnien zurückerobern. Anders geht es nicht.“

Zurück in Lukavac genießt Fadila im Café am See immer noch die ungewohnte Ruhe. Einige Kollegen sind hinzugekommen, auch der Bürgermeister der Stadt, Sead Hasanhodžić. „Wir haben jetzt wieder die Grenzen unseres Bezirkes erreicht“, sagt der dynamische Verwaltungsfachmann stolz. „Die aus dem Bezirk stammenden Vertriebenen können bald alle zurück in ihre Dörfer.“ Dazu habe die Stadt ein Programm erarbeitet. Jede Woche würden 30 Häuser mit Hilfe der Stadt wiederaufgebaut. Schon in wenigen Wochen werde das Bergwerk wieder arbeiten, damit könne ein weiterer Block des Kraftwerkes betrieben werden. „Eine Million Tonnen Kohleförderung noch in diesem Jahr streben wir an“, schwärmt Hasanhodžić. Auch die Schuhfabrik arbeite wieder, sogar für den Export. Die italienische Firma „Aida“ lasse jetzt Schuhe in Lukavac produzieren. „Sie werden uns bald überhaupt nicht mehr beschießen können, dann kommen weitere Investoren“, hofft er, „auch aus Deutschland.“

Und immer wieder erwähnt er die große Hilfe, die seiner Stadt durch die grüne Bundestagsabgeordnete Marie Luise Beck zuteil geworden sei. „Die Lebensmittelhilfe aus Bremen hat viele unserer Bürger in der härtesten Zeit 1993 gerettet.“ Er danke den deutschen Spendern und freue sich, im Sommer 1994 Beck die Ehrenbürgerwürde verliehen zu haben.

Am See ertönt ein Freudenschrei. Gerade ist es einem der Angler gelungen, einen prächtigen Fisch aus dem See zu ziehen. Spaziergänger laufen auf ihn zu und betrachten das 20 Kilo schwere Prachtexemplar. In den blumenübersäten Vorgärten sitzen ganze Familienclans, manche grillen, manche haben Freunde zu einer Kaffeetafel geladen. Dem Beschauer bietet sich hier am See von Lukavac ein friedliches Bild. So könnte es überall in Bosnien sein. Als wolle er die Gedanken an Srebrenica und den Krieg verscheuchen, greift Ekrem zur Gitarre und singt eines der schwermütigen Lieder seiner Heimat.

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