Der erste Neoliberale ist zurück: Die Rückkehr des Backenbarts
Hans-Werner Sinn war aus der Mode gekommen. Dann kam die Krise - und er mit ihr zurück in die Talkshows.
Er kneift die Augen zu und hebt die Hände hoch, als wollte er kapitulieren. Die Lautsprecher röhren und kreischen, so laut, dass es wehtut. An diesem Montagabend soll Hans-Werner Sinn den Menschen in Dachau bei München die Krise erklären. Aber die Tonanlage im Theatersaal des Sportvereins streikt. Es gibt dröhnende Rückkopplungen. Sinns Stimme scheppert blechern aus den Boxen. Das verleiht dem Vortrag etwas behaglich Unbeholfenes. So klingt es sonst, wenn SPD-Kandidaten niederbayerische Dorfplätze beschallen oder Gewerkschaftsfunktionäre vor dem Werkstor eines Mittelständlers müde Arbeiter agitieren.
"Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert", ruft Hans-Werner Sinn. "Die Manager sind nur die Marionetten im Theater. Darüber sitzen die Marionettenspieler - die Aktionäre." Die Renditeziele von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann seien "nicht tolerabel", die Wall Street sei zum Kasino verkommen. Nur der Sozialstaat schütze Deutschland noch vor der Krise. Man mag es beim Zuhören kaum glauben: Auf der Bühne spricht gerade Deutschlands wichtigster Neoliberaler.
Den Ruf hat sich Hans-Werner Sinn, 61, hart erarbeitet. Pünktlich jeden Monat veröffentlicht der Professor für Volkswirtschaft mit seinem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München das führende Launenbarometer der deutschen Wirtschaft, den ifo-Geschäftsklimaindex. Regelmäßig schreibt er einen meinungsfreudigen Bestseller. 2003 verfasste er so etwas wie die Bibel der deutschen Neoliberalen, den modernen Klassiker "Ist Deutschland noch zu retten?" - ein 500-Seiten-Konzentrat knackiger Analysen mit einem schwarz-rot-goldenen Schutzumschlag drum herum. "Arbeitsmarkt im Würgegriff der Gewerkschaften" heißt ein Kapitel im Buch. Ein anderes ganz nüchtern: "Der Sozialstaat: Mächtigster Konkurrent der Wirtschaft".
Das klingt heute wie aus einer anderen Zeit. Seit die Weltwirtschaftskrise alle Debatten zu überwuchern begann, schienen Sinn und seine Analysen aus der Mode gekommen. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer schimpfte im Landtag über die "Krise der ökonomischen Theorie" und meinte auch Hans-Werner Sinn. SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier forderte nicht mehr brutale Sozialreformen, sondern wetterte gegen das "Land der Marktradikalen". In den großen Talkshows sah man Hans-Werner Sinn zuletzt weniger häufig als früher, dort sitzt jetzt regelmäßig die Kommunistin Sarah Wagenknecht.
Sinn besuchte dafür Tagungen der deutschen Atomlobby. Schließlich hatte er in seinem 450-Seiten-Wälzer "Das grüne Paradoxon" beschrieben, dass sich der Klimawandel ohne Atomkraft kaum abwenden lasse. "Eigentlich war ich ganz auf das Thema Klimawandel eingestellt", sagt Sinn. "Dann kam die Krise." Jemand musste den Menschen die Ursachen erklären, fand Sinn und begann zu schreiben, die Nächte und die Ferien hindurch. Er nannte das Buch "Kasino-Kapitalismus". Seitdem sagt Hans-Werner Sinn Sätze, die auch von einem engagierten Juso stammen könnten: "Die Lasten, die jetzt der Steuerzahler hat, sind das Pendant zu den Dividenden und Gewinnen der Vergangenheit", erklärt Sinn.
"Wollen wir den Kapitalismus abschaffen und den Sozialismus wieder einführen?", fragt Hans-Werner Sinn in Dachau ins Publikum. Dann lächelt er, damit auch der Letzte im Saal die Ironie begreift. "Ich bitte Sie." Er hat seinen Laptop aufgeklappt. Auf der Leinwand vor dem schwarzen Vorhang poppen bunte Kurven und putzige Bildchen auf - eine kleine Bombe, eine heiße, dampfende Kartoffel als Symbol für die Risikopapiere, mit denen die Banken hantierten. Hans-Werner Sinn erklärt die Krise. Im Publikum lachen die Größen des Dachauer Mittelstands, als wäre die Wirtschaftskrise etwas, was weit weg passiert.
Beim Interviewtermin im ifo-Institut in München sitzt Hans-Werner Sinn fröhlich auf einem Sofa, vor ihm ein Espresso, um ihn herum ein Zimmer, das aussieht, als hätte man es aus einem anderen Jahrhundert herausgerissen. Die Wände sind mit dunklem Holz getäfelt, das Sofa hätte man wohl schon vor hundert Jahren als klassisch verkauft. Über seinem altertümlichen Kinn- und Backenbart lächelt Hans- Werner Sinn jugendlich.
"Volkswirte sind keine Ideologen", sagt er. "Unsere Aussagen stützen mal die Linken, mal die Rechten. Lange wurden vor allem die Rechten gestützt. In der Krise klingen unsere Aussagen plötzlich wieder links." Schon seit Jahren veröffentlicht Sinn Fachaufsätze, in denen er warnt, der globale Wettbewerb könne zu einer zu laschen Kontrolle der Banken führen. Das ifo-Institut hat sie nun in einem Heft nachgedruckt. Es hat etwas von einer Verteidigungsschrift. Noch im März 2008 prognostizierte Sinn nicht viel mehr als eine tiefe Konjunkturdelle. "Die Party ist vorbei", schrieb er. "Ich will trotzdem nicht behaupten, dass ich die Krise in ihrer Schärfe vorhergesehen hätte", meint Sinn.
Er holt seinen Laptop und wirft eine Powerpoint-Folie voll bunter Linien auf den Bildschirm. Auf dem rechten unteren Bildschirmviertel steht "Abschwungphase", den Linien nach hatte Sinn die schon ab dem Frühjahr 2008 vorhergesehen. Er habe gewarnt, sagt Sinn derzeit gerne, nur die Journalisten hätten nichts geschrieben.
Die interessierten sich berechtigterweise mehr für Sinns Fehlgriffe. Im Oktober verglich Sinn die aktuelle öffentliche Kritik an Spitzenmanagern mit dem Antisemitismus anno 1929. Das sei empörend und eine Beleidigung der Opfer, fand der Zentralrat der Juden. Sinn musste sich entschuldigen. Ein knappes halbes Jahr später scheint das alles vergessen. Vergangene Woche durfte Sinn in einem Interview warnen, dass der Staat seine aktuellen Schulden irgendwann über Steuererhöhungen wieder abbezahlen müsse, und bestimmte einen Tag lang die politische Agenda in Berlin. Sinn sei für eine Steuererhöhung, meldeten die Nachrichtenagenturen eilig. Host Seehofer wies Sinns Forderungen kategorisch zurück. Unionspolitiker ereiferten sich über "die Herren Professoren". Am Abend verschickte Sinn zwar eine Mitteilung, dass er das gar nicht so gemeint habe, aber er war wieder zurück im großen Politikspiel.
Es ist fast wieder wie in den großen Tagen, als Sinns ifo-Institut aus seiner Villa im Münchner Stadtteil Bogenhausen heraus nachhaltiger die Republik veränderte als die Beamten im Berliner Regierungsviertel. Anfang 2002 gründete Hans-Werner Sinn ohne Auftrag und Fördergelder eine Arbeitsgruppe. Sie sollte das Konzept einer "aktivierenden Sozialhilfe" entwerfen. Daraus entstand wenige Monate später eine der umstrittensten Reformen der Nachkriegsgeschichte: Hartz IV.
"Die Hartz-Kommission ist durchaus von unserem Gutachten beeinflusst gewesen", sagt Hans-Werner Sinn und wirkt stolz darauf. Er meint: "Wir kommen dank Hartz IV besser durch die Krise, weil wir mehr Jobs halten können." Schuld an der Krise sei auch der American Dream gewesen, die Vorstellung, dass auch arme Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich ein eigenes Haus zu leisten und zu etwas Wohlstand zu kommen, schreibt Sinn in seinem Buch. Sinn sagt: "Dass jeder von seiner Hände Arbeit leben kann, ist eine Vorstellung, die sich höchstens noch im Schlaraffenland realisieren lässt." Der Staat müsse die Löhne von Geringverdienern bezuschussen. In einem Land, wie es Hans-Werner Sinn vorschwebt, müsste wohl niemand auf der Straße leben, für die soziale Romantik von Aufstieg und Wohlstand für die Fleißigen ist aber kaum mehr Platz. Man fragt sich, was so ein Land noch zusammenhalten würde.
Auf Gewerkschaftsdemos und Kirchentagen träumen die Menschen gerade von einer anderen Wirtschaft. Hans-Werner Sinn träumt davon, die Eigenkapitalquoten von Banken zu erhöhen. Das würde dem System mehr Stabilität geben, sagt er. Die Chancen seien gerade günstig. Derzeit ist er ein gern gesehener Gast in jenen Konferenzräumen, wo die Politik an einer neuen Wirtschaftsordnung bastelt. In einer Expertenkommission berät er den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer bei der "Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft". Als Angela Merkel vor wenigen Wochen zum großen Krisengipfel ins Kanzleramt lud, saß Sinn selbstverständlich mit am Tisch. Sarah Wagenknecht hatte niemand eingeladen. Und am Dienstag ist er zu Gast bei Maischberger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch