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■ Der erste Anlauf zur Bewältigung der Geschichte der Rote Armee Fraktion leidet unter den mangelnden Selbstzweifeln der AkteureDer Herbst der Erinnerung

Zwanzig Jahre nach den Salven von Köln und Mogadischu steigen die überlebenden Akteure noch einmal in den Ring. Mit Worten wird gestritten, nicht mehr mit Maschinenpistolen. Das ist nicht der einzige Fortschritt. Gerade so, als wolle die Republik in einer kollektiven Anstrengung nachholen, was bisher versäumt wurde, ist über den Deutschen Herbst 1977 eine Debatte in Gang gekommen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar war. Die RAF selbst hat dieses Tor aufgestoßen, als sie 1992 den „bewaffneten Kampf“ faktisch abbrach und das eigene Scheitern eingestand.

Nicht in den einzelnen Facetten, aber in der Summe der Veröffentlichungen spiegelt sich ein erster Versuch nachträglicher Aufarbeitung, gelegentlich sogar Bewältigung. Ein unvollständiger Versuch freilich, mit weißen Flecken auf der Ebene der Fakten und ohne Aussicht auf Einvernehmen. Alles andere wäre auch verwunderlich: Noch jeder politischen Auseinandersetzung – oder wenn man so will: jedem Krieg – folgten die Nachhutgefechte um die Interpretationshoheit über die historische Wahrheit. Und darin über die Verteilung der historischen Schuld. Diese Phase ist angebrochen.

Dreierlei steht im Herbst der Erinnerung 1997 einer wirklichen Bewältigung entgegen: die fortgesetzte „Verschleierung“ von Fakten; die ungleich entwickelte Bereitschaft der Medien, die Beteiligten in ihrer historischen Befindlichkeit ernst zu nehmen; schließlich die Weigerung der Akteure selbst, eigene Fehleinschätzungen nachträglich einzugestehen.

Zugang zu den Archiven, die die Marathonsitzungen der Bonner Krisenstäbe im Deutschen Herbst dokumentieren, hatte in den vergangenen zwanzig Jahren eine einzige Person: Helmut Schmidt. Über die – vermuteten – Stammheimer Abhörmaßnahmen während der Schleyer-Entführung gibt es Andeutungen, aber keine einzige definitive Aussage. Die Tonbänder, so es sie gibt, könnten letzten Aufschluß geben über die Selbstmorde der Gefangenen, aber eben auch darüber, was die verantwortlichen Politiker wann wußten, taten oder unterließen.

Doch die Aufzeichnungen sind tabu. Warum? Ist es ein Wunder, daß Mutmaßungen und Verschwörungstheorien nicht enden wollen? Bewältigung ist undenkbar, bevor nicht die Archive geöffnet sind und alle Beteiligten reden. Und zwar die Wahrheit.

Zwanzig Jahre nach seinem militärischen Triumph siegt Helmut Schmidt im Herbst 1997 ein zweites Mal über die RAF. Dieses Mal publizistisch. Nach dem Auftritt des Oberleutnants der Reserve in Heinrich Breloers „Todesspiel“ war alle Welt überzeugt: Der Kanzler mußte handeln, wie er gehandelt hat. Er mußte Schleyer opfern, er mußte auch den Tod der Landshut-Passagiere einkalkulieren. Selbst die davongekommenen Mallorca-Urlauber äußern sich so. Ein einziges Argument reichte aus, auch gestandene Linke zu überzeugen. Nicht „Staatsräson“ habe ihn zu seiner Entscheidung bewogen, schwört Schmidt, sondern die Sorge, einmal freigepreßte Gefangene würden zurückkommen und weitermorden. Am Ende müßten mehr Menschen dem RAF-Terror zum Opfer fallen, als im Herbst 1977 auf dem Spiel standen. Daß Schmidt damals so dachte, steht außer Zweifel. Daß es ernstzunehmende Gründe gab, so zu denken, ebenso.

Aber heute? Im Rückblick muß die Frage erlaubt sein, ob Schmidt recht behalten hat. Die stellt aber niemand, auch er selbst nicht. Das ist merkwürdig, denn die Geschichte verlief ganz anders, als von Schmidt erwartet, obwohl die RAF-Gründer am Ende nicht frei, sondern tot waren.

Zieht man am Abend des 5. September 1977, nach der Ermordung der vier Begleiter Schleyers, einen Strich, erweist sich, daß die Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat vor und nach diesem Datum exakt dieselbe Zahl an Opfern gefordert hat, nämlich jeweils 32. Eine solche Rechnung ist nicht zynisch, denn es hätte sogar noch schlimmer kommen können, hätte es in Mogadischu, wovon der Bundeskanzler fest ausging, Tote unter den Urlaubern und GSG-9- Beamten gegeben.

Niemand kann sagen, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätte Bonn ausgetauscht. Sicher ist nur: Mindestens die zehn Opfer, die die Schleyer-Entführung nach dem 5. September noch forderte, hätten überlebt. Andreas Baader hat kurz vor seinem Tod erwiesenermaßen ein Ende des blutigen Terrors in Aussicht gestellt. Heute will Stefan Wisniewski, einer der Schleyer- Entführer, nicht ausschließen, daß die Untergrundgruppe sich Baaders Vorstellungen nach dessen Freilassung angeschlossen hätte.

Wie auch immer, die Wahrscheinlichkeit, daß Helmut Schmidt ohne Staatsräson, aber mit Härte Menschenleben gerettet hat, scheint im Rückblick ausgesprochen zweifelhaft. Der Hang zur Autosuggestion, man kann sagen: zum Trotz, ist auch jenseits der Barrikade weitverbreitet. Unter dem Druck der veröffentlichten Meinung, die die Verantwortung für die Eskalation des Jahres 1977 bequemerweise den Kämpfern von einst allein aufbürdet, gilt dort jedes Schuldanerkenntnis als Sakrileg. Die Tötung des Bankiers Ponto: „ein Fehler“. Die Ermordung der vier Begleiter Schleyers: „ein taktischer Fehler“. Die Hinrichtung Schleyers: „ein möglicher Fehler“, wenn überhaupt einer. Die Aufarbeitungsbemühungen der RAF-Veteranen, die es durchaus gibt, stehen unter dem identitätsbewahrenden Vorbehalt: „Der Aufbruch war berechtigt.“

So ist Bewältigung ausgeschlossen. Der Aufbruch zum „bewaffneten Kampf“ war, jenseits aller moralischen Bewertung, unberechtigt von Anfang an, weil Ergebnis fehlerhafter Analyse. Weder waren die Berufsverbote Vorboten eines neuen Faschismus, noch befanden sich, was damals Zehntausende glaubten, die Kräfte des Fortschritts und die der Finsternis weltweit in einem labilen Gleichgewicht.

Die phantastische Vorstellung, „schwache revolutionäre Kräfte in den Metropolen“ (im Klartext: 20 entschlossene Leute) könnten gemeinsam mit den Befreiungsbewegungen des Südens das große Ganze zum Kippen bringen, war keine Spezialität der RAF. Sie war grundfalsch und ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund vollständigen Unwissens über die inneren Erosionsprozesse des sowjetischen Machtblocks.

Für eine Bewältigung, in der beide Seiten zum Zwecke der künftigen Vermeidung eigene Fehler eingestehen, ist die Zeit noch nicht reif. Die Betonung liegt auf noch. Das ist unbefriedigend, aber besser als nichts. Gerd Rosenkranz

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