: Der älteste Mord der Welt
Abseits von Peter Steins „Faust“-Projekt hat sich in der Arena Treptow ein kleiner Spielbetrieb etabliert. Das „Faust“-Ensemble zeigt die Geschichte von Kain und Abel
Peter Steins 21-stündige „Faust“-Inszenierung gastiert nun schon einige Monate in der Treptower Arena – ein Kulturmarathon, das trotzdem kaum für Aufsehen sorgt in der Stadt: keine Plakate, keine Berichte. Auch hört man von niemandem, der die Aufführung gesehen hätte – was allerdings auch schlicht daran liegen könnte, dass es im Bekanntenkreis vielleicht keinen gibt, der mal eben 350 Mark für zwei Tage Faust hinblättern mag.
Doch die Veranstalter geben sich zufrieden. Sogar aus Japan kämen die Zuschauer, heißt es. Fünfunddreißig Schauspieler wurden für das berühmteste aller deutschen Dramen engagiert. Eine Hand voll Stars für die Hauptrollen und viele junge Leute von Schauspielschulen und kleineren Theatern, die Neben- und Kleinstrollen spielen.
Weil hier wohl jede Menge Begabung brachliegt und an den spielfreien Wochentagen auch jede Menge Zeit, hat sich abseits des Mega-Fausts ein kleiner Spielbetrieb etabliert, „Nachtstücke“ genannt. Hier lesen die Stars schöne Texte als virtuose Monologe. Christian Nickel zum Beispiel, der sonst den jungen Faust spielt, las Thomas Manns Jugendstilerzählung „Tristan“ und Gretchen Dorothee Hartinger Schnitzlers „Fräulein Else“.
Andere dürfen sich an eigenen Projekten versuchen – etwa an einem Einakter des weitgehend unbekannten Dichters Friedrich Koffka. Dafür ist die Geschichte, die Koffka während des Ersten Weltkriegs dramatisch aufarbeitete, umso bekannter: Es ist die alte Geschichte vom ersten Mord der Menschheitsgeschichte, verübt von Kain an seinem Bruder Abel.
In der Arena beginnt sie mit Schwaden von Trockeneisnebel, in dem sich bald neun Körper winden – neun Männer in Unterwäsche, wie man später sieht. Erst stoßen sie undefinierbare Laute aus, aus denen sich langsam Wörter bilden. Die Frage: „Wo ist dein Bruder Abel?“, setzt dann die Handlung in Gang.
Im Wesentlichen besteht der Text aus einem Gespräch, das Kain und Abel führen, bevor Kain die berühmte Tat begeht. Jeder der Schauspieler ist mal Kain und jeder mal Abel. Mal wird sich zu Kain-Gruppen aufgestellt, unter denen ein einziger Abel agiert. Dann gibt es einen verzweifelten Kain, der sich gegen lauter rüde Abels zu behaupten hat. Die Männer tragen längst weiße Handwerkeranzüge und schwere Stiefel. Abel, das ist ein Supermann, ein Alleskönner, der auch schon mal im Rudel eine Frau vergewaltigt hat. Kain dagegen ist der Stille, vom Vater als Versager Verachtete. Einer, der nicht mal fähig ist, ein Kalb zu töten, und der sich vom übermächtigen Bruder Abel nur durch Mord befreien kann.
Der Abend trägt Züge von virtuosem Schauspielertraining, manchmal ertrinkt er im Pathos, dann wieder wird er ziemlich komisch. Aber warum es wohl ausgerechnet Koffkas Kain sein musste? ESTHER SLEVOGT
Friedrich Koffka: „Kain“: Ein Ensembleprojekt für 9 Schauspieler. In der Arena, Eichenstraße 4, Berlin-Treptow
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen