Der Zettelwahlkampf der SPD: Peers Traum
SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück postet auf Facebook Fotos von handgeschriebenen Zetteln. Das soll Ehrlichkeit und Spontaneität demonstrieren.
Digitales Leben ins analoge zu holen ist uncool – auch wenn es Menschen geben mag, die im Echtleben „Lol“ („laughing out loud“) oder „Yolo“ („you only live once“) sagen oder allem ein Hashtag (#) verpassen, auch wenn es nicht auf Twitter steht. Aber wie gut funktioniert der Transfer andersrum? Das kann man sich fragen, wenn man auf Peer Steinbrücks Zettel stößt, die Teil seiner Facebook- und Twitter-Kampagne sind.
Auf eingescannten Zettelchen veröffentlicht er da kurze handschriftliche Statements unter dem Titel „P.S. kurz notiert“. Zum Mindestlohn zum Beispiel oder „… zum Tag der Arbeit“.
Irgendwie kann man sich das schon vorstellen, wie Steinbrück im Bundestag sitzt, denkt „Schlechte Nachricht für Frauen: CDU/CSU beharrt auf ihrer Position von vorgestern“ – und das kurzerhand auf die Rückseite seines nächsten Redemanuskripts kritzelt. Tatsächlich aber verkündet P.S. in der Rubrik meist Forderungen, die auf jedem Wahlplakat zu finden sein könnten.
Trotzdem entsteht durch die Handschrift und gelegentliche Verweise auf unpolitische Themen wie Fußball ein Eindruck, Steinbrück würde da einfach mal frei heraus etwas meinen – und ganz ungefiltert veröffentlichen.
Medium für geheime Botschaften
Auf Zetteln notiert, wer etwas ehrlich und spontan festhalten will: Seit Grundschulzeiten ist er Medium für geheime Botschaften, bei dessen Verfassen man sich besser nicht erwischen lassen sollte – sonst riskiert man, ihn laut vor der Klasse vorlesen zu müssen. Voll exklusivem Geheimwissen scheint er zu stecken, der Zettel – so wie der, den Exnationaltorhüter Jens Lehmann während der WM 2006 im Viertelfinale gegen Argentinien zugespielt bekam.
Selbst wenn es sich nur um eine To-do- oder Einkaufsliste handelt – Zettel sind etwas Hochpersönliches. Gerade einer wie Steinbrück, der wegen intransparenten Nebeneinkünfte in Verruf geraten ist, tut gut daran, an einem ehrlichen Image zu arbeiten – und sei es mit der Veröffentlichung von vermeintlich „privaten“ Zettelchen.
Eine gut ausgedachte Wahlwerbung, die wenig damit zu tun hat, dass der arme Mann ja eigentlich nicht viel mit dem Internet am Hut hat, aber jetzt von seinen Kampagnenmachern trotzdem eine Social-Media-Kampagne à la Obama angehängt bekommt. Sich über Steinbrück wegen der Zettel lustig zu machen, ist einfach. Aber wo ist eigentlich der Unterschied, ob man einen analogen Zettel einscannt – oder ein Foto?
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