Der Wald als Beruhigungspille: Eskapismus, Baby!
Klar denkt man beim deutschen Wald nicht gleich an Berlin. Aber so falsch wär's auch nicht, denn die Hauptstadt ist eine der grünsten in ganz Europa.
W as für ein Luxus, sich in diesen Zeiten ob der politischen Lage einfach mal davonschleichen zu können. Manche Krisen sind längst bei uns angekommen, andere rücken immer näher; dem Eskapismus können wir aber weiterhin frönen, wie wir wollen. In Berlin ist da so einiges drin: sich feucht-fröhlich die Kante geben, endlos frustdönern mit scharf, schwofend drei Tage wach in einem der vielen Clubs verbringen – bevor die A100 sie plattasphaltiert. Hier gibt es grenzenlos viele Möglichkeiten, den Kopf in den Sand zu stecken.
Für mich allerdings ist es der Waldboden. Ganz ohne Kater und Cold Turkey, ohne saures Aufstoßen und Flatulenz, außerdem garantiert kostenfrei. Krisengeplagt und angetrieben von Großstadtneurosen, von zu vielen Reizen inmitten von Massen überreizter Menschen, heißt es für mich daher immer öfter: Wochenend und Sonnenschein und dann mit mir im Wald allein.
Gefrustet vom Rechtsruck in Almanya, von eindimensionaler Staatsräson, von Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit, auf der Flucht vor Scholz und Lindner und der räudigen Leitkulturdebatte der CDU, zieht es mich ausgerechnet in des Deutschen liebstes Refugium: historisch kontaminiert, mythologisch ein Pfund. Zugegeben, Berlin liegt nicht im Schwarzwald, nicht im Bayerischen oder Thüringer Wald. Aber hey, auch wir können Wald! Immerhin ist Berlin eine der grünsten Hauptstädte Europas.
Man muss nicht in die Berge
Beim deutschen Mythos Wald können der Grunewald, der Spandauer und Tegeler Forst oder die Köpenicker Wälder nur bedingt mithalten. Die alten germanischen Stämme haben sich wahrscheinlich von anderen Wäldern beeindrucken lassen. Auch die Gebrüder Grimm und weitere Märchenonkel und -tanten werden ihre Inspiration hauptsächlich aus anderen Regionen bezogen haben.
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Trotzdem: Es bleibt ein kleines Wunder, wie schnell man in Berlin mit Bus und Bahn dem urbanen Wimmelbild entfliehen und sich in weitflächigen Wäldern verlieren kann. Vom Umland mal abgesehen. Fast 30.000 Hektar Wald gehören dem Land Berlin, ein knappes Fünftel des Stadtgebietes ist bewaldet. Kiekste, wa?! Dem Staunen gewidmet ist dann tatsächlich so einiges, steht man erst mal mittendrin und sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Das Kuriose ist ja, dass der Wald kein reizarmer Ort ist und dennoch beruhigend wirkt. Waldbaden nennen das einige neumodisch.
Für mich als Großstädter ist es dieser Tage ein echtes Ereignis, wenn in der Natur geflirtet und buchstäblich gevögelt wird, dass die Äste quietschen. Besonders angetan haben es mir die Spechte. Ich jedenfalls finde es faszinierend, wie einem ein einziger Vogel mit seinem schnöden Holzgeklopfe ein Gefühl für die Räumlichkeit des Waldes gibt. Wenn das Klopfen eines kleinen Buntspechts klingt wie der krähengroße Schwarzspecht: der wuchtigste in unseren Breitengraden, tatsächlich ganz in Schwarz und auf dem Haupt ein roter Iro wie der frühe Sascha Lobo.
Und das ist wirklich nur eines von unzähligen Beispielen für das, was adrenalingeladene Großstädter im Wald entschärfen kann. Gib den Viechern noch zwei, drei Monate und du hörst das Summen und Brummen, Surren und Schwirren von wahrscheinlich Milliarden von Insekten. Ein konstanter Sound, dem scheinbar nie der Klang ausgeht. Wer das alles nicht glaubt, dem seien die meditativen Waldgeräusche auf den einschlägigen digitalen Plattformen empfohlen. Der Wald wirkt und ist ein Gesamtkunstwerk, ganz ohne Warteschlange vor der Tür.
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