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Der Traum des Apothekers

Wenn die Kuh Stützstrümpfe trägt. Eine Reportage aus dem Paradies der Hypochonder

Über die Teddys wachen Plüsch-käfer und Stoffschafe

Uwe Sander träumt nachts seltsame Dinge. Eine riesige Milka-Plüschkuh sitzt schwerfällig auf ihren Hinterbeinen. Um den Hals trägt sie eine schwere Glocke. Und einen Schal des Hamburger Fußballvereins St. Pauli um den Hals. Zwischen ihren Vorderbeinen hält sie ein großes Schild mit der Aufschrift: „Blutzuckermessgerät inklusiv Teststreifen und Stechhilfe“. Der Oberkörper einer Schaufensterpuppe trägt eine lila gefärbte Dauerwelle und ein T-Shirt mit der plärrenden Aufschrift: „Ich war beim Friseur.“ In ihrer Hand hält sie eine knallrote Schnur. Eine Ader? Sie wirbt für ein Blutdruckmessgerät. Eine kleine Dampflok mit einem Anhänger steht auf Schienen. Die Passagiere, zwei kleine verstaubte Teddybären, sind dazu verdammt ständig rund einen Meter hin und wieder zurück zu fahren, wenn ein Kind die Aufforderung auf einem Schild befolgt: „Hand auflegen und der Zug geht ab“. Bewacht werden die kleinen Bären von Plüschmarienkäfern und Stoffschafen.

Der Mann hat noch einen Traum parat. Muss er ja auch. Wo soll er sonst hin mit dem Unterteil der Schaufensterpuppe. Die steht in fescher Bikinihose über dem Zugszenario. Und lächelt. Aber nicht mit einem Schaufensterpuppenlächeln, wie man es erwarten würde. Dazu fehlt ihr der obere Teil. Nein, sie lächelt ziemlich breit mit dem Grinsen einer Plüschhülle für Wärmflaschen in Sonnenform.

Dann hat Uwe Sander ausgeträumt. Und hat ein neues Schaufensterkonzept für die nächsten sechs Wochen. Seit dreizehn Jahren ist er der Inhaber der Jungborn-Apotheke im Hamburger Stadtteil Schanzenviertel. „Die Ideen für die Dekoration kommen mir nachts in meinen Träumen“, sagt er. Davon macht er sich eine Skizze und beauftragt dann seinen Dekorateur. „Ich verzichte fast ganz auf Ausstattungen von Pharmafirmen“, so der Exberliner. Dafür muss er auch mal in die eigene Tasche greifen, wie bei der Kuh der bekannten Schokoladenfirma. Deren dicke Fellbeine er auch mal in Stützstrümpfe zwängt. Ein vielseitig einsetzbares Nutztier.

Das Innere der seit 1959 bestehende Apotheke ist ein Paradies für Hypochonder. Schon im Eingangsbereich werden in einer Plexiglasschale sehr günstig kleine Freiöl-Fläschen für 1,71 Mark gegen Übel wie Faltenbildung angeboten. Gleich dahinter steht ein Schuhputzgerät gegen die Hundeauscheidungsreste im Viertel. Der Gang zur Theke ist gerahmt von Schalen voll mit Halspastillen und entspannenden Kräuterbädern. Auf der rechten Seite steht eine Studienbüste aus dem vergangenen Jahrhundert mit der Aufschrift: „Über die Grundwahrheiten des Lebens die Bedeutung der Körper-, Kopf- und Gesichtsformen nach Carl Huters Psycho-Physiognomik“ und hält den Kopfhörer für den Gehörtest bereit. Wer möchte und sich vielleicht ein kleines bisschen krank fühlt, darf sich in der Mitte des Raumes in einen Ledersessel setzen.

Hier umrauscht die Kunden das Plätschern eines Brunnens, zur Stärkung gibt es Wasser angereichert mit Vitaminen aus einem fauchenden Tank. Bald wird es hier auch Wasser aus einer geheimen Quelle im Stadtteil St. Pauli geben. Der malade Blick fällt auf das Bild „Der Jungbrunnen“ aus dem 16. Jahrhundert von Lucas Cranach dem Älteren: Greise, kranke, runzelige Menschen steigen ins kühle Nass, kommen nach dem erfrischenden Bad gesund und jung wieder heraus und verziehen sich in ein Festzelt. Der bequeme Sessel, das Plätschern, der vitaminreiche Trunk, der Duft von Arznei, die lächelnden Apothekerinnen . . . Schon hört man Gesang und Bechergeklirr aus dem Festzelt herüberklingen . . . Und grasen auf den Wiesen dahinter nicht auch glückliche Kühe in Stützstrümpfen? USCHI BEHRENDT

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