Der Terror aus Frankreichs Vorstädten: Hausgemachte „Dschihadisten“
Nach einem Antiterroreinsatz diskutieren Franzosen jetzt wieder über die Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen im eigenen Land.
PARIS taz | Vorerst scheint die Gefahr gebannt. Die französische Polizei hat am Samstag eine islamistische Gruppe festgenommen, die verdächtigt wird, Mitte September einen Sprengstoffanschlag auf einen jüdischen Lebensmittelladen in Sarcelles bei Paris verübt zu haben.
Elf Personen sitzen vorerst in Polizeihaft. Ein 33-jähriger Mann, der als Chef dieser mutmaßlichen Terroristen galt, wurde bei seiner Verhaftung erschossen. Bei ihm und drei Komplizen, die zum Zeitpunkt ihrer Festnahme teilweise bewaffnet waren, hat die Polizei Testamente gefunden, die belegen, dass sie bereit waren, als „Märtyrer“ mit der Waffe in der Hand zu sterben.
Die Polizei hat ebenfalls eine Liste möglicher Angriffsziele mit Adressen jüdischer Institutionen in Frankreich entdeckt. Einige planten laut Staatsanwaltschaft auch, in Mali oder im Mittleren Osten für den „Dschihad“ zu kämpfen.
Frankreich atmet auf – und fürchtet sich dennoch bereits vor zukünftigen „Dschihadisten“ vom Stil eines Mohammed Merah, der im März in Toulouse drei Soldaten und vier Menschen vor einer jüdischen Schule ermordet hatte, bevor er selber bei der Erstürmung seiner Wohnung von der Polizei getötet wurde.
Hausgemachter Terror
Die ersten Erkenntnisse nach der Polizeiaktion vom Wochenende bestätigen erneut, dass Frankreichs aktuelle terroristische Bedrohung aus den Quartieren französischer Städte kommt und „hausgemacht“ ist.
Innenminister Manuel Valls sagte: „Es handelt sich hier nicht um Terroristenringe, die von außen kommen. Es sind Gruppen aus unseren Quartieren. Es handelt sich nicht um Ausländer, sondern um zum Islam konvertierte Franzosen und französische Muslime.“
Ihre Radikalisierung nähre sich aus Hassvorstellungen und Feindbildern, die sie aus internationalen Konflikten beziehen und auf Frankreich projizieren, sagt Valls.
Eine kleine Minderheit
Selbstverständlich distanzieren sich heute alle Repräsentanten des Islam in Frankreich von diesem Extremismus und warnen vor einem unheilvollen Amalgam zwischen den rund zwei Millionen praktizierenden Muslimen und einer sehr kleinen Minderheit von Extremisten.
Wie Merah in Toulouse oder der in Straßburg erschossene Jérémie Louis-Sidney haben sich diese Terroristen in Frankreich radikalisiert und nicht in Afghanistan, im Libanon oder in Algerien wie frühere Mitglieder von Terrorgruppen. Beide fanden offenbar im Gefängnis den Weg zu einem Fanatismus, der sie in die Sackgasse der Gewalt führte.
Auf die Problematik der Seelsorger in den Gefängnissen weist der Hochschulprofessor Boubaker El-Hadj Amor hin. Er ist Mitglied der Union des Organisations Islamiques de France, und als Imam in Poitiers kennt er den Mangel an ausgebildeten Seelsorgern.
Ehrenamtliche Seelsorger
Im Unterschied zu den katholischen Priestern, die aus öffentlichen Mitteln besoldet werden, arbeiten die muslimischen Seelsorger ehrenamtlich. Sie seien bei Weitem nicht zahlreich genug, um sich um die seiner Schätzung mehr als 10.000 inhaftierten Muslime zu kümmern.
„An ihrer Stelle erklären sich dann irgendwelche Individuen zu Imams und üben einen negativen Einfluss auf Mitgefangene aus, die bereits sozial marginalisiert und auf Abwegen waren“, sagt El-Hadj Amor.
„Sowohl Merah als auch Louis-Sydney haben sich eine eigene Ideologie zusammenbastelt, die nichts mit unserem Verständnis vom Islam zu tun hat. Das ist reiner Terrorismus.“
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