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Der „Tatort“ in Zeiten des PostfaktismusAn jedem verdammten Sonntag

Am Sonntag läuft die 1000. Folge des „Tatorts“. Sein Erfolg ist Symptom einer Gegenwart, die Gefühle standardmäßig mit Gewissheiten verheiratet.

Dramatik, klar, aber realistisch soll es sein! Szene aus einem Münster-“Tatort“ Foto: dpa

Sonntags um 20.15 Uhr nach den Nachrichten beginnt das Hochamt einer verängstigten Republik, die sich über ihren Zustand am liebsten im Format des Krimis informiert. Der Erfolg des „Tatorts“ ist ein Symptom der postfaktischen Gesellschaft.

Vor Kurzem, nach der Abgeordnetenhauswahl in Berlin, hat der Spitzenkandidat der AfD freundlicherweise einem breiten Publikum auseinandergesetzt, worum es sich dabei handelt. Konfrontiert mit Kriminalitätsstatistiken, denen zufolge Ausländer in Deutschland verhältnismäßig nur unwesentlich mehr Straftaten als Deutsche begehen, sagte er: Es gehe ja nicht nur um die reine Statistik, sondern darum, wie das der Bürger empfinde. „Im Englischen gibt es ein schönes Wort: ‚Perception is reality‘, das, was man fühlt, ist auch Realität.“

Großes Gelächter beim Publikum im Fernsehstudio. Aber die Sache ist: Der Mann ist ja nicht allein mit dieser Argumentation.

Ähnlich wie er hatte zum Beispiel schon der Tory-Politiker Michael Gove für den Brexit argumentiert. Oder Newt Gingrich von den US-amerikanischen Republikanern. Auch er erklärte eine FBI-Kriminalitätsstatistik für irrelevant mit dem Argument, es könne schon sein, dass die Kriminalität gesunken sei, er aber verlasse sich auf das Gefühl der Menschen; und das sage ihm, die Verbrechen hätten zugenommen. Von Donald Trumps Gefühlswahlkampf mit falschen Fakten brauchen wir da gar nicht mehr anzufangen.

Die Drehbücher sind nur erfunden

Der „Tatort“ nun, die Krimireihe der ARD, gedeiht eigentlich in einer Welt, in der man jeden Unsinn erzählen soll, wenn er der Geschichte dient; der Welt der Fiktion. Die Drehbücher sind erfunden, eigentlich weiß das auch jeder, und das ist auch gut. Man stelle sich vor, wie entsetzlich der „Tatort“ wäre, würde er tatsächlich als „Spiegel der Gesellschaft“ fungieren, wie es bisweilen heißt. Dann würden im Berlin-„Tatort“ 89 Minuten lang nur Fahrräder geklaut.

Auffällig ist aber, und verstärkt in der jüngsten Zeit, mit welcher Ernsthaftigkeit der „Tatort“ in den Währungen des Faktischen gemessen wird. Um den Krimi herum wurden diverse mediale Institutionen errichtet, die aus der Sonntagabendgestaltung vieler Menschen nicht wegzudenken sind. Dazu gehören Vorabkritik, Live-Kommentar und Zusammenfassung der #tatort-Tweets. Dazu gehört aber tatsächlich auch der Realitätscheck: der Check von Fakten, die in einem fiktionalen Film auftauchen. Als wäre der „Tatort“ Donald Trump.

Vor zwei Wochen etwa erwarb sich die Münchner Polizei Meriten bei der deutschen Twitter-Community, als sie während einer „Tatort“-Erstausstrahlung in zahlreichen Einlassungen gnadenlos enthüllte, dass der Krimi gar keine Dokumentation ist.

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So lautete ein Tweet, als die Fernsehpolizisten gerade auf unkonventionelle Art einen Verdächtigen befragten. Und ein anderer, als sie, aus einer Bar kommend, schnurstracks an einen Verbrechenstatort fuhren:

Man stelle sich vor, ein Kinderarzt würde die „Blechtrommel“ faktenchecken: Am Ende würde er herausfinden, dass sie unglaubwürdig ist, weil Dreijährige in Wirklichkeit gar nicht aufhören zu wachsen.

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Irgendwie kann man sich also, wenn man das Gelaber der postfaktischen Politiker und die Wahrheitsliebe der „Tatort“-Fans so nebeneinanderstellt, des Eindrucks nicht verwehren, dass ein paar Dinge doch ziemlich aus dem Lot geraten sind. Es gibt einerseits Menschen, die im Bereich der Politik an die Erzählung von brandschatzenden Ausländerhorden glauben, die uns am Ende noch die Nägel von den Zehen stehlen werden, obwohl die Zahlen etwas ganz anderes sagen.

Babylonische Fakten-Fiktions-Verwirrung

Und es gibt andererseits Menschen, die sich einen fiktionalen Film anschauen, von dem sie wissen, dass ihn sich jemand ausgedacht hat, die dann aber bitte trotzdem schon noch schwarz auf weiß haben wollen, ob auch wirklich alles akademische Weihen hat, was sie da gesehen haben. Es herrscht eine nachgerade babylonische Fakten-Fiktions-Verwirrung.

Wenn man versucht, sie zu erklären, gehört der „Tatort“ als vielfältig mit journalistischen Programmen verwobenes Aushängeschild des deutschen Krimis mit in die Gleichung. Konzipiert wurde die Krimireihe in den siebziger Jahren mit dem expliziten Anspruch, dass alle Fälle realistisch sein sollten. Dieser Anspruch hat sich auf eine Weise verselbständigt, die einem wahnsinnig auf die Nerven gehen kann.

„Tatort“-Autoren bedienen sich bei der Themensuche nicht immer, aber immer wieder im Zeitungsarchiv, natürlich nur bei den ganz großen Themen. So kommt es, dass Ehrenmorde, Zwangsheiraten und Inzesttabus verhandelt werden. Gebhard Henke, der die „Tatort“-Filme für die ARD koordiniert, wurde vergangene Woche im Spiegel mit der Aussage zitiert, es sei der Anspruch, in diesem fiktionalen Format auch Wirklichkeit abzubilden, also müsse man auch mal den Mut haben, Migranten oder Flüchtlinge als Täter zu zeigen – es gebe schließlich tatsächlich welche, die zu solchen würden.

Und nicht dass Henke mit Letzterem nicht recht hätte, die Sache ist nur: Der ganz erheblich üblichere Mord in Deutschland sieht eher so aus, dass ein Mann seiner Frau den Hals umdreht, weil er auf ihr ewiges Genöle keinen Bock mehr hat. Und viele solcher Morde wurden in der „Tatort“-Geschichte nun nicht gerade aufgeklärt – zum Glück, weil es ja auch stinklangweilig wäre. Aber so ist es dann eben auch schnell Essig mit der Realitätsabbildung.

Gezeigt wird nur, was Angst macht

Der Versuch ist also klar: Filme spielen in deutschen Modellwohnzimmern in der deutschen Debattenlandschaft. Umgesetzt wird er allerdings dadurch, dass von allem, was man abbilden könnte, nur das gezeigt wird, wovor man so Angst haben könnte – es gibt ausländische Banden, Islamisten, Terroristen, ohnmächtige Kommissare mit Burn-out. So ist das eben mit Krimis, die dank der Inflation von „Tatort“ und skandinavischen Produktionen das beliebteste Fiktionsformat im deutschen Fernsehen sind. So wird eine beliebte Gesellschaftserzählung selbst zum Krimi.

Beliebt im „Tatort“ sind neben Geschichten, die heiße Eisen anpacken, Täter, die kein klassisches Motiv haben. Leute, die ohne nachvollziehbaren Grund andere Leute töten, die ihnen eigentlich gar nichts getan haben. So was gab es im „Tatort“ etwa Ende Oktober. Letzte Woche dann war mal wieder der Islam das Problem. Da kann man den Rechtswählern auf homogenen Halbinseln wie Usedom dann dreimal mit dem Fakt kommen, dass sie doch eigentlich noch nie ein Kopftuch gesehen haben, folglich auch keine „Überfremdung“ bevorsteht: Erzählung ist Erzählung. Gefühl ist Gefühl.

Und die ARD spielt Filme, die sich an Mediendebatten anlehnen, bisweilen auch gleich wieder zurück in den Journalismus und lässt Anne Will nach dem „Tatort“ über das Thema des Krimis reden: wie vergangenen Sonntag, als es nach dem Film über die Radikalisierung junger Menschen im Talk auch gleich um dieses Thema ging, ohne einen akuten aktuellen Anlass.

Es wäre daher falsch, den „Tatort“, dessen tausendster Film am Sonntag läuft, weiter als Spiegel der Gesellschaft zu betrachten. Er ist ein Mitspieler. Und der derzeit große Erfolg seiner manchmal übrigens hervorragenden Filme ist ein Symptom unserer Gegenwart, einer Gegenwart, die Gefühle standardmäßig mit Gewissheiten verheiratet. Für Krimis ist es eine gute Zeit.

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