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Der Sprachphilosoph Als er vier Monate alt war, floh Senthuran Varatharajah mit seiner Familie aus Sri Lanka nach Deutschland. Er wuchs zweisprachig auf, zu Hause wurde Tamil gesprochen, ansonsten Deutsch. Was mit Sprache geschieht, wenn Flucht und Migration ihre Voraussetzungen sind, treibe ihn um, sagt Varatharajah. Ein Gespräch„Oft denke ich, dass die Sprachlosigkeit meine Muttersprache ist“

Interview Susanne MessmerFotos Karsten Thielker

taz: Herr Varatharajah, stört es Sie, wenn Ihr Roman als Fluchtgeschichte gelesen wird, als Kommentar zu den aktuellen Ereignissen?

Senthuran Varatharajah: Wenn man ein Buch geschrieben hat, muss man dem Leser alles zugestehen – dass er mit dem Buch machen kann, was er will. Es ist aber eine Verkürzung und Verletzung des Textes, ihn nur darauf reduzieren zu wollen. Die sogenannte Mehrheitsgesellschaft in diesem Land glaubt, dass Flucht und Asyl neue Themen seien.

Sind sie es nicht?

Sie sind aktuell, seit den Anfängen der BRD. Für die Mehrheitsgesellschaft ist es ein Thema von tagespolitischer Relevanz, für Menschen, die geflohen sind und fliehen, sind das Lebens­themen.

Ihr Buch ist in einer Art und Weise geschrieben, die es schwer macht, persönlich zu werden

Fragen Sie nur.

Dann pirsche ich mich mal vorsichtig heran. Ganz Ihrem Roman gemäß.

Sie fanden ihn vorsichtig?

Ja, allerdings. Und zögerlich.

Ich wollte eine Sprache finden, die sich ihrem Gegenstand mit Bedacht und einer gewissen Zurückhaltung nähert.

Ihre Sprachskepsis hat einen Grund. Sie hat mit dem Thema Ihres Romans zu tun, der Flucht. Es geht um zwei junge Menschen, Senthil und Valmira, die sich auf Facebook begegnen. Beide sind vor vielen Jahren mit den Eltern nach Deutschland geflohen: Er vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka, sie vor dem Bürgerkrieg im Kosovo. Es geht also um Entwurzelung.

Ich verwende den Begriff der Entwurzelung nicht. Er ist biologisierend.

Trotzdem beschreiben Sie den Verlust der Muttersprache, den Senthil und Valmira erleben.

Valmira spricht auch nach der Flucht noch fließend Albanisch, auch wenn es ein anderes ist als das, das heute in Prishtina gesprochen wird. Es ist in der Zeit stehen geblieben, in der Zeit des Krieges und der Flucht. Senthil aber hat das Tamil vergessen. Vielleicht ist es so, dass sich eine andere Sprache, die deutsche, darübergelegt hat, und sie wirkt im Verborgenen nach. Es ist möglich, über diese Dinge auch ohne einen Ton der Klage zu schreiben, ohne Sentimentalität. Valmira und Senthils Sprache ist, wenn auch aus verschiedenen Gründen, eine Sprache der Resignation.

Der Resignation …?

Ja. Ich wollte wissen, was mit einer Sprache geschieht, wenn Tod, Flucht und Migration ihre Voraussetzungen sind. Tamil zu sprechen konnte während der Zeit des Bürgerkrieges in Sri Lanka das Leben kosten. Sen­thil erfährt zudem nicht nur einen Sprach-, sondern auch einen Schriftwechsel, vom tamilischen ins lateinische Alphabet. Und diese Zeichen sind für ihn nicht nur die des Asyls, sondern auch die der britischen Kolonisation. Ich wollte wissen, was geschieht, wenn wir in verschiedenen Sprachen sprechen und angesprochen werden. Können wir etwas, was wir in einer Sprache wahrgenommen haben, in einer anderen erzählen, es in sie übersetzen? Was geschieht dabei mit dem Gegenstand des Erzählens und mit uns als Erzähler? Beherrscht die Sprache uns?

Welche Sprache ist Ihre Muttersprache?

Wenn es so etwas wie Muttersprache gibt, dann wäre das Tamil und Deutsch. Tamil ist die Sprache, in der ich erzogen wurde. Ich spreche sie kaum mehr. Meine Familie ist nach Deutschland geflohen, als ich vier Monate alt war. Deutsch war einmal die Sprache des Asyls. Ich kenne keine Sprache, die so biegsam, offen und differenziert ist. Eine Philosophie wie die Hegels oder Heideggers hätte in einer anderen Sprache nicht geschrieben werden können. Oft denke ich, dass die Sprachlosigkeit meine Muttersprache ist.

In Ihrem Roman sagen die Figuren öfter Sätze wie: „Wir hätten uns begegnet sein können.“ Oder: „Gespräche könnten gewesen sein.“ Was ist denn da grammatikalisch passiert?

Ich habe diese Sätze intuitiv geschrieben, es gab kein Konzept, das dem Schreiben vorausging. Diese Formulierungen schaffen eine mehrfache Distanz. Sie lassen etwas, das ohnehin unsicher ist, noch unsicherer erscheinen. Die Vorsicht, mit der Valmira und Senthil sprechen, ist nicht nur eine ästhetische und ethische, sondern auch eine existenzielle. Sie kennen den Tod. Sie kennen Zerstörung. Und diese Erfahrungen haben sich in ihre Sprachen eingeschrieben. Von ihnen leitet sich jeder Laut ab.

Senthuran Varatharajah

Der Mensch:Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, lebt in Berlin. Er studierte Philosophie, Evangelische Theologie und Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und absolvierte Studien- und Forschungsaufenthalte am King’s College London der University of London. Heute ist er Doktorand am Institut für Philosophie an der HU. Sein Dissertationsprojekt erforscht das Fremde in der Klassischen deutschen Philosophie.

Das Buch: Senthuran Varatharajahs Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“ (Fischer Verlag, 254 S., 19,99 Euro) er­zählt von Valmira Surroi, die mit ihren Eltern aus dem Kosovo floh, und Senthil Vasuthevan, der autobiografisch inspiriert ist und sich mit seinen Eltern aus Sri Lanka auf die Flucht begab. Die beiden tauschen über Facebook Nachrichten aus, erzählen sich gegenseitig ihre Erfahrungen mit der zuerst fremden Sprache, mit den Reaktionen des Umfelds und auch mit den eigenen Familien, die sich mit Entfremdung auseinandersetzen. (sm)

Kritiker haben Ihnen vorgeworfen, dass Sie es Ihren Lesern mit Ihrer Sprache nicht besonders leicht machen würden.

Unabhängig davon, dass jede Sprache und jedes Sprechen artifiziell ist, setzt diese Rede vo­raus, dass es ein natürliches und ein nichtnatürliches Sprechen gibt. Was wäre diese natürliche Sprache? Wer spricht sie? Wer entscheidet darüber, was natürlich und was artifiziell ist? Was sind die Kriterien? Ich vermute, die Kritik hängt damit zusammen, dass in der sogenannten jungen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine Sprache des Plauderns, des Dahersagens, eine Umgangssprache verbreitet ist.

Können Sie das genauer ausführen?

Diese Sprache versucht zu imitieren, wie man spricht. Aber wer ist dieses man? Würde man diese Dinge über Texte eines weißen Deutschen auch sagen? Es ist die alte Frage: Kann der Subalterne sprechen? Und wenn: in welcher Sprache? In welcher Tonart? Es scheint für viele weiße Deutsche schwer vorstellbar, dass ein Mensch mit dunkler Haut, der hier aufgewachsen ist, Deutsch spricht und diese Sprache nach seinem Willen gestaltet. Auf der Leipziger Buchmesse vor wenigen Tagen wurde ich von Journalistinnen und Journalisten regelmäßig auf Englisch angesprochen. Und das, obwohl sie wussten, dass ich ein deutschsprachiger Schriftsteller bin.

Einige Kritiker finden auch, dass Sie nicht den Ton treffen, der im Allgemeinen auf Facebook vorherrscht.

Das Gespräch, das Valmira und Senthil führen, ist kein Chat. Die Sprache des Chats zeichnet sich durch eine Missachtung der Syntax, Orthografie und Interpunktion aus, auch durch eine verkürzte Sprache, die durchsetzt ist von Smileys. Aber auch hier lässt sich fragen: Warum irritiert eine Sprache, die nicht die Sprache der Allgemeinheit ist, derart? Die eigenen Erfahrungen werden universalisiert: Weil man selbst auf eine gewisse Art mit Menschen über Facebook kommuniziert, ist jede andere Weise ungültig, zumindest verdächtig. Manchmal glaube ich, dass es hier auch um die Vorstellung geht, wie Personen mit Fluchtgeschichten sprechen und klingen müssen.

Andererseits ist es auch kein Gespräch im klassischen Sinne, oder? Oft sind beide nicht zeitgleich online, schreiben ins Leere. Irgendwann sagen Sen­thil und Valmira auch, dass sie aneinander vorbeisprechen.

Ich habe versucht, ein Gespräch als Nichtgespräch zu schreiben.

Warum?

Weil das, was sie sich erzählen, in keinem konventionellen Gespräch, in keiner konventionellen Sprache, in keiner konventionellen Form gesagt werden kann.

Es ist, als ob man durch mehrere Schichten Milchglas auf sich selbst blickt.

Kennen Sie Max Frischs Poetikvorlesungen?

Varatharajah steht auf und zieht ein Buch aus der Bibliothek in seinem Arbeitszimmer, sucht kurz nach einer Unterstreichung und liest vor:

„Jedes gesellschaftliche System, ob ein feudales oder liberales, entwickelt eine Sprache, die das System bis in die Nebensache hinein affirmiert. Eine Herrschaftssprache, nicht nur von der herrschenden Schicht gesprochen, als Alltagssprache, die wir lernen als Kind und lebenslänglich gebrauchen, ohne zu wissen, dass sie uns mit Vorurteilen füllt, mit Redensarten. Ein armer, aber ehrlicher Mann. Vielleicht ist der Mann in dieser Gesellschaft darum arm, weil er ehrlich ist. Warum sagen wir also nicht, ein reicher, aber ehrlicher Mann?“

Varatharajah macht eine Pause und schaut auf das Buch in seinen Händen.

Ich habe viel mit Jugendlichen aus Einwandererfamilien in einem Projekt und an Schulen in Wedding gearbeitet. Einige meinten, sie seien zerrissen. Sie würden zwischen den Stühlen stehen. Ich glaube, wenn uns die Sprache fehlt, verwenden wir diese Redewendungen, bis zu dem Punkt, an dem wir sie verkörpern.

„Für unsere Eltern war McDonald’s der einzige Restaurantbesuch, den sie sich anfangs leisten konnten. Und für uns war es ein Zeichen des sozialen Aufstiegs“

Ist die Redewendung denn so falsch?

Sie führt in falsche Richtungen, denn sie suggeriert klare Grenzverläufe und eine Distanz zwischen Kulturen. Kulturen stehen sich aber nicht wie Blöcke gegenüber. Es gibt mehrere Berührungsstellen, Verschränkungen. Und große Differenzen im Kleinen.

Ist es das, was Senthil und Valmira auszudrücken versuchen?

Im Grunde versuchen die beiden, die Sprache ihrer Erfahrung zu sprechen, weil in der Herrschaftssprache nicht ausgedrückt werden kann, was sie erfahren haben. Das führt sie an die Grenzen der Grammatik, an die Ränder der deutschen Sprache. Und dort, an den Stadträndern, haben sie sie auch erlernt, dort, wo Asylbewerberheime gewöhnlich stehen.

Die Sprache reicht den beiden nicht, um sich das zu erzählen, was sie einander erzählen wollen?

Sie wissen, dass Sprache nichts bewahren kann. Dass sie verschwindet. Sprache ist für sie eine andere Form der Auslöschung. Indem man Spuren über ältere Spuren legt, werden sie verwischt. So ist es auch mit den Geschichten von der Flucht und dem, was ihr vorausging. Es gibt in Familien, die geflohen sind, oft zwei Geschichten: die eine, die routiniert erzählt und entweder eine Verkürzung oder Lüge ist, die die Behörden, Freunde und Kinder kennen, und die andere, von der nur nach und nach, in Nebensätzen, unerwartet gesprochen wird – über die nicht einmal die Eltern untereinander sprechen. Es gibt immer diese Unsicherheit: Welche ist die Geschichte, die ich für mein Leben halte?

Kann man sagen, dass Ihr Roman von Heimat und Identität handelt?

Für viele Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichten sind Begriffe wie Heimat und Identität immer noch wichtig. Für mich und die Protagonisten in dem Roman ist das nicht der Fall. Ich identifiziere mich nicht mit mir selbst. Auch „Heimat“ gehört nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Das Wort „Zuhause“ vielleicht. Ich fühle mich hier in Schöneberg zu Hause, aber auch in Toronto und in Tokio.

Es gibt immer wieder solche diskreten Kleinigkeiten in Ihrem Buch, in denen große Geschichten mitschwingen. Zum Beispiel die Geschichte von einem Geburtstag, an den sich Sen­thil unter anderem deshalb erinnert, weil es Fischstäbchen von Iglu gab.

Die Fischstäbchen sind Zeichen eines gewissen Angekommenseins. Mit Freunden aus Einwanderer- oder Geflüchtetenfamilien gehe ich auch heute noch nachts, nach der Bar oder dem Club, manchmal zu McDonald’s. Für unsere Eltern war McDonald’s der einzige Restaurantbesuch, den sie sich anfangs leisten konnten. Und für uns war es sicherlich auch ein Zeichen des sozialen Aufstiegs. Daher besitzt McDonald’s bis heute für uns etwas Romantisches, es ist ein sentimentaler Ort, fast wie eine Kirche. Das können die meisten meiner deutschen Freunde ohne Mi­gra­tions- oder Fluchtgeschichte nicht nachvollziehen.

Ich würde gern auf die Tagespolitik zurückkommen. Wie haben Sie die Reaktion der Deutschen auf die Flüchtlinge im Sommer empfunden?

Ich habe nicht geglaubt, dass so etwas in Deutschland möglich ist. Mein jüngerer Bruder arbeitet für „Flüchtlinge Willkommen“. Die Hilfsbereitschaft der Menschen ist immer noch groß. Wir leben, trotz Lageso, in einer vergleichsweise privilegierten Stadt – nur neigen wir hier in Berlin dazu, Berlin mit Deutschland zu verwechseln.

Senthuran Varatharajah über Vorurteile: „Es scheint für viele weiße Deutsche schwer vorstellbar, dass ein Mensch mit dunkler Haut Deutsch spricht und diese Sprache gestaltet. Auf der Leipziger Buchmesse wurde ich regelmäßig auf Englisch angesprochen“

Wie erleben Sie den derzeitigen Erfolg der AfD?

Nach Silvester habe ich im Kölner Stadtanzeiger eine winzige Meldung über die Vorfälle am Dom gelesen – und ich wusste: Das wird alles verändern. Und genau so kam es auch. Es hat mich nicht gewundert.

Warum nicht?

Wir sind mit einem Bild neben dem Waschbecken im Badezimmer eines Asylbewerberheims aufgewachsen, auf dem ein Schwarzer abgebildet war – kein rassistisches Merkmal wurde ausgelassen –, der sich mit der Klobürste die Zähne putzt. Darunter steht: „So nicht!“ Daneben steht ein Deutscher mit einem adrett gebügelten Hemd und gescheiteltem Haar. Er putzt sie sich mit einer Zahnbürste, und darunter steht: „So!“ Wir sind mit den Bildern von Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln aufgewachsen. Es gab Tage, an denen unsere Eltern uns verboten haben, vor die Tür zu gehen.

Waren Sie nicht trotzdem schockiert über das, was nach Köln in Deutschland passierte?

Es war, als hätten viele Menschen, vor allem aber Journalisten und Politiker nur auf so ein Ereignis gewartet.

Und hat sich nach Köln etwas in Ihrem Alltag verändert?

Mein Bruder wohnt in Prenzlauer Berg, und kurz nach Köln hat er für ein paar Freunde und mich gekocht. Ich ging neben einer Freundin, die Kopftuch trägt. Wir sind also in seine Straße ­eingebogen, und plötzlich lief ein Mann in sie hi­nein, ohne ein Wort zu sagen. Sie hielt mich zurück, ihn anzusprechen. Wenige Sekunden später kam eine Frau und lief ebenfalls in sie hinein. Als ich mich nach ihr umdrehte, zeigte sie mir den Mittelfinger, ohne uns dabei anzusehen.

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