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Der Seelsorger In den frühen 80ern war Uwe Müller Kfz-Mechaniker in Ostberlin, hatte weder mit sozialen Themen noch mit der Kirche zu tun. Später baute er die erste Telefonseelsorge Ostberlins auf, die er heute noch leitet. Eigentlich, sagt er, seien die Sorgen seiner Anrufer immer die gleichen: mangelnde Liebe und die Suche nach Bestätigung„Leider bekommt man in unserer Branche nur wenig Anerkennung“

Interview Lea WagnerFotos Wolfgang Borrs

taz: Herr Müller, warum wird man Telefonseelsorger?

Uwe Müller: Meist weil man an Selbstheilung glaubt. Die wenigsten machen das aus Uneigennützigkeit. Fast alle, die zu uns kommen, wollen etwas über sich erfahren und Konflikte überwinden.

Wieso das denn – die Konflikte haben doch Ihre Anrufer?

Stimmt, aber um unseren Anrufern helfen zu können, muss ich zunächst einmal bei mir aufgeräumt haben. Alles Unbearbeitete kommt am Telefon wieder hoch. Telefonseelsorger werden heißt, eine einjährige berufsbegleitende Ausbildung zu absolvieren, in der ich mich besser kennenlerne.

Was lernt man da?

Den Kopf auszuschalten, nur so kommen wir an Erinnerungen ran. Dafür lassen wir die Teilnehmer zeichnen, was ihnen in den Sinn kommt. Oder wir fragen sie, wie das Haus ihrer Kindheit roch. Erstaunlicherweise wissen das alle noch, auch Jahrzehnte später. Außerdem lassen wir sie ihre Stammbäume zeichnen, bis zur Generation der Urgroßeltern. Es verschafft Erleichterung, zu sehen, dass ich als Individuum Teil eines Systems bin und es übergeordnete, regelmäßige wiederkehrende Muster gibt, für die ich nichts kann.

Welche denn?

Zum Beispiel: ‚In unserer Familie spricht man nicht über Geld.‘ Oder: ,Bei uns stecken Frauen immer zurück.‘ Auch das Konzept des schwarzen Schafs, das es in vielen Familien gibt, ist ein solches Muster.

Wer bewirbt sich bei Ihnen?

Menschen zwischen zwanzig und siebzig. Der Altersdurchschnitt bei den Auszubildenden liegt bei etwas über vierzig. Der ideale Mitarbeiter ist Anfang dreißig, geschieden und hat bereits einen Elternteil verloren. Wir suchen Leute, die Krisen konstruktiv meistern können.

Aus welchen Branchen kommen Ihre Mitarbeiter?

Da ist alles dabei. Vom Apotheker über die Kindergärtnerin bis zum Lkw-Fahrer und zum Softwareingenieur. Auch Schauspieler und Drehbuchautoren tummeln sich bei uns.

Die suchen nach Stoff …

Stimmt. Ich mache mir keine Illusionen. Wie gesagt, die meisten machen das nicht ganz selbstlos. Was aber auch nicht schlimm ist, weil es nicht bedeutet, dass ich deshalb einen schlechteren Job mache.

Ihr Dienst ist die Kirchliche Telefonseelsorge. Müssen Ihre Bewerber gläubig sein?

Man sollte offen sein für die Frage nach einem tieferen Sinn. Und bereit sein zu suchen. Wer an gar nichts glaubt, kann nur schwer Hoffnung spenden. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Wir suchen keine Fanatiker, die andere missionieren. Eine Seelsorgerin hat mal Bibelstellen vorgelesen, nur war am anderen Ende der Leitung ein Jude, bei dem kam das nicht gut an. Noch eine andere hat Anrufern Bibelstellen vorbeigebracht.

Hatte das Konsequenzen?

Klar, beide flogen raus. Sich mit Anrufern zu treffen ist ein No-Go. Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist Anonymität. Und zwar zum Schutz beider Seiten. Wir können keine regelmäßigen Therapiestunden anbieten und auch keine Bezugsperson ersetzen, das ist nicht unsere Aufgabe.

Gibt es Menschen, die regelmäßig anrufen?

Serienanrufer haben wir häufig. Zum Beispiel eine alleinstehende alte Dame, die seit Jahren nicht mehr aus dem Haus geht. Die ruft jeden Abend an, einfach nur, um jemandem eine gute Nacht zu wünschen. Dann legt sie wieder auf. Das ist okay.

Ist sexuelle Belästigung ein Problem?

In jeder zweiten Schicht, wobei Frauen Männern da in nichts nachstehen. Vielen Menschen verschafft es Erleichterung, anderen von ihren sexuellen Gelüsten zu erzählen.

Wie gehen Sie mit solchen Anrufern um?

Wir lassen sie erst mal reden. Wenn wir merken, dass der Anruf der sexuellen Befriedigung dient, beenden wir das Gespräch.

Wie belastend sind solche ­Anrufe?

Man wird toleranter mit der Zeit. Weil man so einiges hört. Echt problematisch ist es jedoch, sich Fantasien anhören zu müssen, in denen es um Gewalt gegen Kinder geht. Da stellen sich mir alle Nackenhaare zu Berge. Das Schlimmste ist, im Nachhinein nicht zu wissen, ob man den Anrufer davon abhalten konnte. So etwas beschäftigt einen oft noch jahrelang.

Uwe Müller

Der Mensch: Uwe Müller, 57 Jahre alt, wuchs in Ostberlin auf. Er ist verheiratet und hat mit seiner jetzigen Frau, einer Bewährungshelferin, drei Kinder. Der älteste Sohn ist 13 und die Zwillinge sind 9 Jahre alt. Aus seiner ersten Ehe hat Müller einen 34-jährigen Sohn. Müller ist ausgebildeter Kfz-Mechaniker und Sozialpädagoge. In seiner Freizeit fährt er gerne Boot im Oderbruch, liest und kocht.

Der Seelsorger: Uwe Müller hat die Kirchliche Telefonseelsorge Berlin-Brandenburg 1988 aufgebaut und leitet sie noch immer. Sie ist die jüngere von zwei Telefonseelsorgeeinrichtungen in Berlin. Die ältere – und erste Einrichtung dieser Art in Deutschland – wurde 1956 in Westberlin gegründet. Müllers Institution wird getragen vom Erzbistum Berlin, der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, den evangelischen freikirchlichen Gemeinden und von Caritas und Diakonie. Der Service ist kostenlos, rund um die Uhr besetzt und wendet sich an Christen wie an Atheisten. www.telefonseelsorge-berlin-brandenburg.de (lwag)

Wie sieht es aus mit Selbstmorddrohungen?

Die kommen leider immer mal wieder vor, übrigens an Weihnachten nicht häufiger als den Rest des Jahres über. In einem Fall war es nicht nur eine Drohung, da hatte die Anruferin schon Tabletten geschluckt, bevor sie zum Hörer griff. Eine junge Frau um die dreißig, unheilbar krank. Ihr Entschluss stand schon fest, als sie bei uns anrief. Allerdings wollte sie nicht allein sterben. Meine Mitarbeiterin blieb am Hörer, bis kein Atemgeräusch mehr zu hören war.

Kommt so etwas öfter vor?

Nein, das sind Ausnahmen. Wir haben viele Positivbeispiele, wo wir Menschen davon abhalten können, sich das Leben zu nehmen. Erst neulich rief ein verzweifelter Familienvater an, der drohte, mit dem Auto bei 180 Stundenkilometern gegen einen Baum zu fahren. Mein Mitarbeiter blieb über zwei Stunden mit ihm am Telefon und konnte ihn überzeugen weiterzuleben.

Wie ging es Ihrem Mitarbeiter danach?

Der war fix und fertig. So was kommt Gott sei Dank nicht täglich vor. Aber wie dem auch sei, all unsere Mitarbeiter müssen jeden Monat mehrmals zur Supervision. Das ist ganz wichtig, um Überlastung und Burn-out zu verhindern. Da sind Menschen in unserem Job nämlich prädestiniert für – wie alle Helfer. Leider bekommt man in unserer Branche nur wenig Anerkennung, weder von den Anrufern noch seitens der Politik. Anders ist das bei unserem Flüchtlingstelefon.

Sie haben eine Hotline nur für Geflüchtete?

Seit Ende Januar. Neben unserer kirchlichen Telefonseelsorge, unserem russischsprachigen Dienst „Doweria“ und unserer muslimischen Telefonseelsorge Mutes. Die Geflüchteten, die bei uns anrufen, sind dankbarer. Meinen Mitarbeitern tut das sehr gut.

Wer genau ruft da an?

Menschen, die schon länger hier leben, aber noch nicht richtig angekommen sind, sowie solche, die erst seit Kurzem hier sind und praktische Fragen haben. Was fast alle beschäftigt, ist die Frage, wie man am schnellsten in Arbeit kommt. Niemand will dem Staat auf der Tasche liegen.

Wie ist das mit interkulturellen Schwierigkeiten?

Davon hören wir oft. Viele müssen erst mal verstehen, dass hier andere Werte gelten. Dass es normal ist, dass Frauen gleichberechtigt sind und dass Mädchen zusammen mit Jungs zum Schwimmunterricht gehen. Für viele eine neue Erfahrung ist auch, dass in einer Demokratie jeder gleich viel zu sagen hat und dass jeder alles hinterfragen darf – ohne dafür ins Gefängnis zu kommen.

Ihr Flüchtlingstelefon richtet sich auch an Flüchtlingshelfer …

Weil auch die oft Gefahr laufen, ausgebrannt zu sein. Einige haben sich übernommen. Viele wollten helfen, ihnen war aber nicht bewusst, dass das ein längerer Prozess sein würde. Meist dauert es über zwei Jahre, bis jemand wirklich angekommen ist. Nur für kurze Zeit zu helfen, geht eigentlich nur in einer Kleiderkammer oder Essensausgabe. Da kann man dann aber auch nur schwer eine enge Bindung zu einzelnen aufbauen, und die ist ja das Interessante.

Engagieren Sie sich privat für Flüchtlinge?

Das würde ich gerne. Meine Familie hat immer mal wieder darüber nachgedacht, einen Flüchtling aufzunehmen. Momentan scheue ich aber davor zurück, sonst werde ich niemandem mehr gerecht. Ich habe eine 80-Stunden-Woche und will auch noch etwas Zeit für meine Frau und meine Kinder finden. Das ist bei meinem Job jeden Tag ein Spagat, mein Handy ist immer eingeschaltet, manchmal klingelt es auch nachts, schließlich bin ich für rund 140 Mitarbeiter verantwortlich.

Was sind denn bei Ihren anderen Anrufern die Hauptthemen?

Eigentlich immer die gleichen: mangelnde Liebe, mangelnde Anerkennung, ein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl. Die Suche nach Liebe und Bestätigung treibt uns alle an.

Sie auch?

Klar, sonst wäre ich nie Telefonseelsorger geworden.

„Ein wichtiger ­Bestandteil unserer Arbeit ist Anonymität. Und zwar zum Schutz beider Seiten“

Wie genau kamen Sie dazu?

Ich war ursprünglich Kfz-Mechaniker und hatte weder mit sozialen Themen noch mit der Kirche zu tun. Als Jugendlicher hing ich die meiste Zeit auf der Straße herum. Im Ostberliner Winter war das echt ungemütlich. Eine Anwohnerin hatte Mitleid mit uns Jugendlichen und bot uns an, die Räume einer angrenzenden Gemeinde als Treffpunkt zu nutzen. Da betrat ich zum ersten Mal eine Kirche. Im Eingang sah ich ein Plakat der Diakonie, die noch Teilnehmer für ihre Roller- und Latscher-Initiative suchte.

Was war das?

Menschen im Rollstuhl und Menschen ohne Gehbehinderung unternehmen gemeinsam Ausflüge. Ich meldete mich an. Als Partnerin zugeteilt wurde mir eine kleinwüchsige, circa fünfzigjährige Frau, die komplett gelähmt war. Wie eine Puppe lag sie da in ihrer Holzkiste, eingewickelt in mehrere Decken – richtige Rollstühle so wie heute gab es zu meiner Jugend in der DDR noch nicht.

Was haben Sie beim Anblick der Frau empfunden?

Ich war schockiert und dachte: Was für ein Elend. Dabei war die Frau fröhlich und voller Energie. Ihre Kraft ziehe sie aus ihrem Glauben, sagte sie. Das hat mich neugierig gemacht. Ich ­begann, in der Bibel zu lesen. Mit siebzehn ließ ich mich taufen. Wie viele Spätgetauften nahm ich es besonders ernst. Ab dem ­Moment war es mir unmöglich, Dienst an der Waffe zu leisten.

Sie haben den Wehrdienst verweigert?

Ja, nach Westberlin zu gehen war für mich als Ostberliner zu der Zeit schon nicht mehr drin. Für Wehrdienstverweigerung kam ich fünf Wochen in den Knast. Ich fand das nicht so schlimm, denn ich hatte Kippen und meine Bibel und bekam jede Menge Post. Schlimm wurde es, als meine Eltern zu Besuch kamen. Meine Mutter, eigentlich eine schöne Frau, war in den paar Wochen dermaßen gealtert, dass ich sie kaum mehr wiedererkannte. Da begriff ich: Das geht so nicht weiter. Vater und Mutter zu ehren, gehört zu den zehn Geboten.

Mussten Sie dann doch an die Waffe?

An zwei Schießübungen musste ich teilnehmen, da habe ich in den Sand geschossen. Davon abgesehen konnte ich bewirken, nicht an der Waffe, sondern in meinem Beruf – Kfz-Mechaniker – eingesetzt zu sein. Ich wurde schikaniert, so oft es ging, bekam Drecksarbeiten zugeteilt und musste mir stundenlang die Beine in den Bauch stehen. Aber alles war besser, als schießen zu müssen.

Was waren Ihre nächsten Schritte?

Ich schrieb mich für Sozialpädagogik ein, an einer kirchlichen Hochschule in Potsdam, wo nach Weststandards gelehrt wurde. Daher blieb nach dem Studium nur die Kirche als Arbeitgeber – der Staat erkannte meinen Abschluss nicht an. Für die Diakonie machte ich Hausbesuche bei Drogen- und Alkoholabhängigen, bei Arbeitslosen und alleinerziehenden Müttern. Ausgefüllt hat mich das nicht. Ich war oft frustriert, weil ich nicht genug für die Menschen tun und die vielen tollen Sachen, die ich im Studium gelernt hatte, nicht anwenden konnte.

Haben Sie anschließend den Job gewechselt?

So leicht ging das nicht. Mit einem Studienfreund traf ich mich regelmäßig in der Kneipe, um zu überlegen, was Ostberlin an sozialen Diensten brauchen könnte. Wir arbeiteten Konzepte aus. Ein Frauenhaus war darunter. Auch eine psychiatrische Einrichtung. Und eine Telefonseelsorge, denn die, die es in Westberlin seit 1956 gab, konnten die Ostberliner nicht nutzen. 1952 hatte man bereits die Telefonnetze getrennt. Wir hatten Glück – alles ging recht schnell und problemlos, da Kirchenrat und Bischof auf unserer Seite standen.

Können Sie sich noch an den ersten Anruf von damals erinnern?

Klar, das war am ersten November 1988. Am Hörer war ein Mann um die siebzig Jahre alt, der sich das Leben nehmen wollte, nachdem er Frau und Kind verloren hatte. Eigentlich hatten wir an dem Abend anstoßen wollen, aber nach feiern war uns danach nicht mehr zumute. Die Sektflasche blieb verschlossen.

Telefonseelsorger Uwe Müller über Menschen, die regelmäßig anrufen: Serienanrufer haben wir häufig. So wie die alleinstehende alte Dame. Die ruft jeden Abend an, einfach nur, um jemandem eine gute Nacht zu wünschen. Dann legt sie wieder auf

Wissen Sie, was aus dem Mann geworden ist?

Nein, das erfährt man in den seltensten Fällen, was oft sehr schade ist, aber zur Natur unserer Arbeit gehört. Man muss lernen, loszulassen, sonst nimmt man alle Sorgen mit nach Hause und ist kein guter Telefonseelsorger mehr.

Wissen Sie, ob die Staatssicherheit Ihre Gespräche belauschte?

Davon gehen wir aus. Jeden Abend um Punkt sechs rief jemand an und legte sofort wieder auf. Nachts war die Leitung oft stundenlang gestört. Ausgerechnet nachts, wo viele anriefen, von einer Telefonzelle aus – nur circa 16 Prozent der Bürger hatten in der DDR ein eigenes Telefon.

Machte Ihnen das Regime generell Probleme?

Einmal wurde ich von der Abteilung Inneres zum Kaminfrühstück zitiert, da hatte ich echt Bammel. Der war unberechtigt – man gratulierte uns zu unserer „tollen Arbeit“. Klar, die wussten vom Abhören natürlich, dass wir kein Fluchttelefon waren, letztlich ging es damals um die gleichen Probleme wie heute, nur in einem vollkommen anderen Kontext. Und einige sorgten sich um ihre nach Ungarn ausgereisten Kinder. Wenn es doch mal heikel wurde, machte ich die Anrufer darauf aufmerksam, dass wir eventuell nicht allein waren …

Gibt es über Sie auch eine Stasiakte?

Vier Akten sogar, wobei ich mir erst drei angesehen habe. Dadurch habe ich erfahren, dass mindestens zwei meiner Mitarbeiter Spitzel waren. Ich will gar nicht genau wissen, ob es noch mehr waren, das würde mich zu sehr enttäuschen.

Zögern Sie vielleicht deshalb, sich die vierte Stasiakte anzusehen?

Ja, vielleicht. Aber auch wenn es noch mehr gewesen sind: Wenigstens hätten die bei uns was gelernt.

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