: Der Schläfer von Erfurt
Es wird wieder geschehen. Vielleicht nicht so spektakulär wie in Erfurt, hoffentlich mit weniger Toten. Tatsächlich, so grausig und zynisch es klingen mag: Man kann nur darauf hoffen. Denn zu dem wenigen, was wir über scheinbar aus dem Nichts kommende mörderische Gewaltexzesse wie den Erfurter Anschlag einigermaßen sicher wissen, gehört die Wiederholungstendenz: Es wird wiedergeschehen. Anderswo und vielleicht aus einem anderen Anlass. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach aus demselben oder einem ähnlichen Motiv. Und dann wird auch wieder, wie in den vergangenen Tagen, mit Volldampf gedacht, diskutiert, gestritten und nach Ursachen gesucht werden. Wo stehen wir eine knappe Woche nach dem „Amoklauf von Erfurt“, der aller Wahrscheinlichkeit nach keiner war? Die Pädagogen und Psychologen, die Gewaltforscher und Soziologen aller Couleur haben – für maximal weitere 14 Tage – mediale Hochkonjunktur, die TV-Redaktionen suchen immer noch ein paar neue Experten für ein alles erklärendes Drei-Minuten-Statement, die Politiker rasseln die inneren Sicherheitskataloge runter. Aber was wissen wir eigentlich über die Tat und den Täter?
Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Massaker von Erfurt von anderen Gewalttaten dieses Typs vor allem durch die Größenordnung. Sechzehn, mit dem Täter siebzehn Tote, bedeuten für Deutschland eine neue Dimension. Aber nicht der body-count ist das Bemerkenswerte. Die Gewaltexplosion in der thüringischen Metropole war eindeutig nicht die Spontantat eines durchgeknallten Jugendlichen, sondern ein gezieltes Töten. Alles deutet darauf hin, dass es die planvolle Abrechnung eines 19-Jährigen mit einer Umwelt war, die ihm, aus seiner Perspektive, Grund für Bestrafung und Rache bot. Es war die Tat eines jungen Mannes, der kaum in die bekannten Klischees passt, die wir bemühen, wenn wir über „gewaltbereite Jugendliche“ reden. Robert Steinhäuser war kein ausgerastetes Unterschichtkind aus einer tristen Plattenbausiedlung. Bislang stehen über sein kurzes Leben so wenig Informationen zur Verfügung, dass selbst die erprobtesten psychologischen Ferndiagnostiker lieber den Mund halten oder sich in ubiquitären Auskünften über allgemeine Probleme des Jugendalters ergehen. Der nahezu einzige Ansatzpunkt zur Deutung seines Verhaltens liegt in der Tatsache, dass er kurz vor dem Abitur die Schule verlassen musste und dass dies für ihn offenbar eine persönliche Katastrophe war, dessen Ausmaß wohl niemand aus seinem näheren Umfeld verstanden hat. Robert Steinhäuser ist nach einem Täuschungsversuch von der Schule verwiesen worden. Das verbindet ihn mit seinen Vorgängern in Littleton, Brannenberg und Freising. Auch sie waren aus der Schule entfernt, auch sie waren ausgeschlossen worden.
War für Robert Steinhäuser damit, wie nun überall zu lesen ist, eine Welt zusammengebrochen? Möglich. Wahrscheinlich sogar. Wir werden es nie mit Sicherheit wissen können. Aber es wird fieberhaft daran gearbeitet, es verständlich zu machen. Auf eine Weise, die mehr wie der Versuch einer Beruhigung als der einer Erklärung wirkt – und die deswegen beunruhigend ist. Das Bild, das die Medien nach hastigen Recherchen vom „Killer von Erfurt“ zeichnen, wird immer stromlinienförmiger: ein junger Mann, dessen Begabung nicht mit seinen Plänen Schritt halten kann, ein Klassenclown ohne Freundin, der die Versetzung in die 12. Klasse nicht schafft, sich zunehmend zurückzieht und sein Versagen in der einsamen Schmollecke mit brutalen Computerspielen zu kompensieren sucht. Ein typischer Einzelgänger also. Fast zwangsläufig wird man bei solchen Recherchen dann auch auf jemanden stoßen, dem er mitgeteilt hat: „Ich möchte, dass mich einmal alle kennen und ich berühmt bin.“ Äußerungen dieser Art sind für 19-Jährige nichts Ungewöhnliches – ungewöhnlich wäre, wenn sie ihnen nicht wenigstens auf den Lippen lägen. Aber aus der Not, das Unverständliche verständlich zu machen, werden solche Sätze im Nachhinein zu Beweisstücken. Kein Zweifel, spätestens zum Weihnachtsgeschäft wird das Büchlein auf dem Markt sein, in dem das psychologische Puzzle, das Robert Steinhäuser hinterlässt, zum lückenlosen Bild des „Killers aus gutem Hause“ zusammengesetzt ist.
Nein, es macht zum jetzigen Zeitpunkt wenig Sinn, Robert Steinhäuser psychologisch zu porträtieren. Was man eine knappe Woche „nach Erfurt“ verantwortlich tun kann, ist wenig genug. Man kann versuchen zu verstehen, was es bedeutet, ausgeschlossen zu werden: Was es insbesondere für einen Spätadoleszenten heißen mag, wenn seine angestrebten Ziele definitiv durchkreuzt werden, wenn das bisherige Leben plötzlich entwertet, die Gegenwart von der Blamage gezeichnet und die Zukunft von Sinnlosigkeit bedroht ist. Und man kann sich Gedanken darüber machen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld und Klima Gewalttaten stattfinden, die wir in Europa bislang nicht gewohnt sind. Daraus wird vielleicht wenigstens verstehbarer, warum der Schock von Erfurt so tief sitzt.
„Für Deutschland war es ein wenig so wie der 11. September für Amerika“ war im Spiegel zu lesen. Es ist verblüffend, dass in den Äußerungen zum „Fall Erfurt“ zwar die Analogie zum 11. September angesprochen, die Idee eines möglichen Zusammenhangs aber beinahe panisch vermieden wird: wohl, weil er auf einer Ebene liegt, die hochgradig angstbesetzt ist. Überraschenderweise hat ihn der thüringische Landesvater auf den Punkt gebracht. Bernhard Vogels Einlassung zum Mörder von Erfurt hat sich in den Ohren festgesetzt: Er sei ein Mensch von „auffälliger Unauffälligkeit“ gewesen.
Das ist ersichtlich eine Formel der Hilflosigkeit. Aber sie hat heute einen anderen Klang als sie noch vor einem Dreivierteljahr gehabt hätte. Das Entsetzen über die Tat von Erfurt wäre wohl auch vor dem 11. September 2001 nicht geringer gewesen. Aber nach diesem Datum fällt es anders aus. Eine der nachhaltigsten Folgen des Attentats in den USA und zugleich der bestplatzierte Nadelstich in unser Sicherheitsgefühl ist das Wissen, dass einmal mehr die Mörder „unter uns“ sind. Speziell in Deutschland konnte sich die Tatsache, dass einige Attentäter der Atta-Gruppe sich jahrelang als betont unauffällige Mitbürger bei uns aufgehalten haben, an alte Ängste anlehnen und neue mobilisieren. Der harmlos wirkende ausländische Student von nebenan, der sich urplötzlich als mordende Bestie entpuppt, wirkt wie die Realisierung paranoider Fantasien über „fünfte Kolonnen“, die sich im Herzen unserer Gesellschaft einnisten und sie „von innen her“ zerstören.
Der „Schläfer“ ist eine genuine psychohistorische Schreckensgestalt der deutschen Gesellschaft, die ihren realen oder moralischen Bestand im Laufe des 20. Jahrhunderts erst durch klandestin agierende Juden und Kommunisten, später durch alte Nazis und Ostagenten und schließlich durch Linksterroristen und neuen Rechtsradikalismus gefährdet sah. Das Wort von der „auffälligen Unauffälligkeit“ trifft eine geheime Angstfantasie: Die Schläfer sind unter uns – und sie kommen aus den eigenen Reihen. Es gibt keine wirkliche Chance ihnen zu entgehen, weil sie – anders als die, die wenigstens „arabisch“ aussehen – vollständig unerkennbar sind. Das Entsetzen über das Erfurter Blutbad hat eine geheime Quelle im seit dem Anschlag auf das World Trade Center gestiegenen Angstpegel der westlichen Gesellschaften. In unseren unbewussten Fantasien sind die beiden Gewalttaten eng miteinander verknüpft. Seit dem 11. September wissen wir: Nichts ist unmöglich. Seit dem 26. April haben wir die Ahnung, dass es mitten unter uns „unauffällige“, im Stillen tickende menschliche Zeitbomben gibt: Keine Terroristen mit umstürzlerischen Zielen, sondern „ganz normale Jugendliche“, die es mit sich in dieser Gesellschaft nicht aushalten. Und – sind es denn nur Jugendliche? Mit der Gewalttat von Erfurt formiert sich die weitere Ahnung, dass unsere Zweidrittelgesellschaft ein enormes Potenzial an „Schläfern“ in sich birgt: Die vielen an den Rand Gedrängten und Ausgeschlossenen, diejenigen, die man früher – als mit ihnen noch politische Hoffnungen verbunden waren – pathetisch die Entrechteten und Beleidigten nannte.
Noch ist dieses Unbehagen hinter dem aktuellen Entsetzen versteckt, aber wir beginnen zu ahnen, welches Dynamit in einem niedergehenden Sozialstaat steckt, der seine Außenseiter systematisch selber produziert. Fast aufatmend hat man sich bei der „Erklärung“ des Erfurter Anschlags auf den verderblichen Einfluss der „virtuellen Realität“ gestürzt. Natürlich ist es nicht die Brutalität der Computerspiele, die Leute wie Robert S. austicken lässt. Sie haben das brutale Spiel von Kränkung, Ausschluss und Demütigung in der höchst eigenen Realität erfahren, und sie hatten in den letzten Monaten Gelegenheit genug zu lernen, die Welt mit den Augen derer zu betrachten, die ihre Ohnmacht in (selbst-)mörderische Stärke verwandeln. Nur ein einziges Mal. Aber ist das, wenn man meint, das angestrebte Leben sei ohnehin vorbei, nicht genug? Es braucht keinen Dschihad, um Selbstmordattentäter zu werden.
Die Ereignisse von Erfurt fallen nicht nur in die Zeit des Wahlkampfs (was jedes spektakuläre Ereignis medial automatisch vergrößert), sondern in eine Periode der kollektiven ökonomischen und psychischen Depression. Die Stimmung in Deutschland ist spürbar schlecht geworden. Selten hat es in der Geschichte der Bundesrepublik eine Zeit gegeben, in der sich eine objektive Krise mit den Sorgen der Menschen so seltsam überlagerte. Es gab in diesem Land schon mehr Arbeitslose und heftigere Verwerfungen, bedrohlichere Formen innergesellschaftlicher Gewalt und fatalere Bilanzen. Aber wohl noch nie jene rätselhafte innere Erosion, die der Spaßgesellschaft von gestern das Lachen ausgetrieben hat.
Es ist, als wären die Auflistungen und Statistiken, die Deutschland im internationalen Vergleich von ökonomischem Wachstum und Prosperität, von Bildung und Sicherheit auf den letzten Plätzen sehen, in die Menschen gekrochen. Ein großer Teil der Deutschen lebt seit der Erschütterung, die sich – teils magisch, teils real – mit dem Datum des 11. September verbindet, in einem unauffälligen Stupor still gestellter Erwartung. Es ist ein Zustand, der – auch das ist neu – keineswegs automatisch „den Rechten“ Zulauf bringt. Die alte Gleichung „ökonomische Krise = Rechtsruck“ geht so nicht mehr auf. Was sich kollektiv eingestellt hat, ist ein Zustand des unartikulierten Unbehagens. Das Volk, um deren Stimmen die Wahlkämpfer ringen, ist verstimmt und verstummt. „Man“ ist gereizt, dünnhäutig, angreifbar. In ganz unterschiedlichen Bereichen – vom dauerkriselnden Baugewerbe bis zur angeblich dauerboomenden Computerbranche – hat sich das Bewusstsein verbreitet, wie schnell man „überflüssig“ werden, wie flott man selber zu den Ausgeschlossenen zählen kann.
In diese Stimmung hinein sind die Schüsse von Erfurt gefallen. Es war ein Einzeltäter und Einzelgänger, zweifellos. Aber einer, in dem sich etwas von dem allgemeinen Unbehagen mörderisch verdichtet hat. Deshalb ist die Frage, ob es „Nachahmungstäter“ geben werde, eine falsch gestellte. Wir täten besser daran zu begreifen, dass jede dieser Taten ein „Original“, dass jeder Täter dieses Typs ein Unikat von freilich symptomalem Wert ist. Denn die ohnmächtige Wut, die sich in einer letzten verzweifelten Demonstration von Stärke äußert, steckt nicht nur in jenen, denen wir aufatmend das Etikett „Einzeltäter“ ankleben. Bei ihnen spitzt sie sich so zu, dass ihnen scheinbar kein anderer Ausweg bleibt als den „unheimlich starken Abgang“ zu wählen. Aber – und das ist keine leere psychologisches Weisheit – das Potenzial zur gewalttätigen Rache besitzen wir alle. Denn wir alle kennen mehr oder weniger gut das demütigende Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, „schlecht behandelt“, ausgegrenzt und ausgeschlossen zu werden. Nur kennen wir es, solange wir uns nicht im abgeschriebenen Drittel der Gesellschaft befinden, meist aus beiden Positionen: der des Ausgeschlossenen und der Position dessen, der in irgendeinem Bereich selber die Macht hat, auszuschließen. Allein diese fragile Symmetrie bewahrt manche davor, den Weg der manifesten Gewalt zu gehen. Wer sie nicht besitzt oder verliert, und das gilt für immer mehr und ganz unterschiedliche Gruppen, steht vor der schwierigen Aufgabe, seine Ohnmacht „sozial verträglich“ zu kompensieren, ohne seine Selbstachtung zu verlieren. Das wird in Zeiten der kollektiven Depression immer schwieriger. Wirklich, die Schläfer sind unter uns.
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