: Der Mann, der Film und der Tod
Im Sommer 1974 war der Mann gerade neunundzwanzig Jahre alt. Da hatte er bereits einundzwanzig Spielfilme und zwei Kurzfilme gedreht. Bis zu seinem Tod 1982 sollten noch weitere dreiundzwanzig hinzukommen, außerdem Hörspiele, Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher zu geplanten Projekten. „Der dreht Filme wie andere Leute Zigaretten“[1], bemerkte Peter Märthesheimer, Fernsehdramaturg und späterer Drehbuchautor – und holte das Arbeitstier 1972 in den WDR[2]. Bis Mitte der Siebzigerjahre war bereits alles da, was den Mythos Fassbinder später ausmachen sollte: die Produktionswut und gerade um ihretwillen das geschickte Surfen zwischen Theater, Fernsehen und Kino, die Rolle des Dompteurs einer chaotisch-kreativen Schauspieler- und Mitarbeitergruppe, die anarchischen sexual politics des Schwulen und seine ambivalenten Frauenbilder, der böse Blick zurück in die Vorkriegs- und bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte und die erbarmungslos nihilistische Sicht auf die emotionalen Verhältnisse quer durch alle Klassen, Schichten und Geschlechter in seinem Jahrzehnt.
Fassbinder begann sein öffentliches Leben im Einflussbereich der 68er-Revolte, in einer diffusen Gefühlslage, in der sich einer wie er Modelle für seine Wut und Trauer aus dem Kino und dem Theater holen konnte, das dem politischen Aufruhr vorwegging oder ihn in imaginäre Bilder auflöste. „Der eiskalte Engel“ Alain Delon, Ikone eines mythischen einsamen Verlierers, stand Pate für die verfremdete Geschichte des ersten Spielfilms Fassbinders. In „Liebe – kälter als der Tod“[3]erzählt er von Gangstern und dem Verrat einer Frau.
Wenn Fassbinder pure Kinogeschichten zitierte, wenn er die Innenschau seiner Filmemacherszene direkt zum Thema machte[4], Historienspektakel mit rebellischem Impuls erzählte[5]oder die Frustrationen des bürgerlichen Lebens mit Verzweiflung aufs Korn nahm – immer stellte er klar, dass „Utopien utopisch sind“, wie er seinem Star Margit Carstensen mit auf den Weg gab. „Es ist besser, neue Fehler zu machen, als die alten bis zur allgemeinen Bewusstlosigkeit zu konstituieren“, hieß das Motto von „Katzelmacher“, der Filmversion seines oft gespielten Theaterstücks[6]. Protest, Aufklärung, Ideen zur konkreten gesellschaftlichen Veränderung, womöglich sozialistische Heilsversprechen via Film zu transportieren, interessierte ihn nicht. Mit Bert Brecht fühlte er sich nicht verwandt, eher mit Ödön von Horváth, weil der sich „direkt für Menschen interessiert“[7]. Der Fassbinder-Experte Thomas Elsaesser[8]hat auf den Punkt gebracht, wie die Grundmotive von Liebessehnsucht, Identitätssuche und Auflehnung in den meisten Filmen in einem strengen formalen Entwurf zum Ausdruck kamen, einem Beziehungsgeflecht der Teufelskreise und Doublebinds. Mit Freud im Instrumentenkoffer arbeitete Fassbinder die Grundstruktur seiner Geschichten heraus: A und B verstricken sich ineinander, bestrafen und töten, weil sie im Anderen jeweils nur das sehen, was sie selbst wollen, nicht was der/die Andere will. C und D steigern in komplexen Symmetrien die grausamen Spiele des Verrats oder der Unterwerfung. Dass Gefühle Menschen verletzlich machen, zum Objekt der Ausbeutung prädestinieren, das war ein immer wieder in den Mittelpunkt gerücktes Motiv seiner Faszination und Empörung, der obsessive Antrieb seiner Geschichten.
Geboren am 31. Mai 1945 in Bad Wörishofen, war er von Beginn an geprägt von der unmittelbaren Angst und Not seiner Mutter während der letzten Kriegstage. Der Vater, ein Arzt, verließ die Familie 1951, später verlor er seine Approbation wegen verbotener Abtreibungen und vermietete in Köln Immobilien an Gastarbeiter. Die Mutter, eine Übersetzerin, musste das Kind immer wieder in die Pflege anderer Leute geben, weil sie nach der Trennung von ihrem Mann an Tuberkulose litt. Lilo Pempeit (ihr Geburtsname) übernahm zu Beginn der Filmkarriere ihres Sohns dessen Büroangelegenheiten und tippte bis zuletzt seine Drehbücher. In vielen seiner Filme spielte sie mit. Fassbinder verbrachte sein erstes Lebensjahr bei Verwandten, die die Ernährung besser sichern konnten, wuchs dann als Einzelkind in der Großfamilie seiner Mutter in München auf, schließlich als stigmatisiertes Scheidungskind mit ihr allein. Die Wirtschaftswunderära blieb in seiner Perspektive eine Zeit, in der die subjektive Entfaltung anstelle von schierer Wohlstandmehrung vernachlässigt wurde. Exzessive Kinobesuche waren Ausgleich für die permanenten Schulprobleme, frühe Versuche als Schauspielschüler anstelle des Abiturs führten ihn direkt in die Münchener Off-Theater-Szene. Mit dem actiontheater[9], dann mit dessen Nachfolger antiteater[10]gelang es dem Stückebearbeiter, Schauspieler und Kurzfilmregisseur Fassbinder, seine eigene Truppe um sich zu sammeln. Arbeit in der Gruppe war von da an seine Lebensform. Die Großfamilie seiner Kindheit kehrte wieder, niemals intakt, aber produktiv.
Sein Star Hanna Schygulla verschmolz geradezu mit dem von Fassbinder und ihr kreierten Stil der entrückten Vorstadtdiva, so dass ihr ohne ihn keine Karriere mehr gelang. Margit Carstensen wurde mit ihrer Rolle in „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“[11]bis heute zur schwer erträglichen Ikone einer aus Angst und Verschlossenheit dominanten Frau, Irm Hermann deren spitzzüngige und unversehens ins Devote gekehrte Kleinbürgerinnenvariante. Fassbinder arbeitete sich mit seinen markanten Ensemblemitgliedern an Prototypen der Frustration ab.
Was heute unmittelbar präsent ist, wenn der Name Fassbinder fällt: das Melodram. Doch dieses Wort wird umso fremder, je länger man es ansieht. Fassbinder hat sich auf sein berühmtes Vorbild Douglas Sirk berufen und nicht nur daran gearbeitet, sein Publikum zum Weinen zu bringen, sondern daran, hinter den Chroniken seines Jahrzehnts, den Albträumen der Nazivergangenheit die universelle Geschichte von unterdrückter Individualität aufzusuchen.
Wie kein anderer unter seinen Regiekollegen suchte Fassbinder sich seine Stoffe immer wieder im Kleinbürger- und Bürgermilieu bzw. unter dessen Ausgestoßenen und Verlierern. Und als Anarchist, der „nach allen Seiten schießt“, wie er in mehreren Interviews sagte, sah er sich nicht in der Nähe der Sozialdemokraten, auch nicht in Gruppen links davon. Fassbinders Sympathie für die erste RAF-Generation ist unbestritten. 1979, nach dem Debakel des „Deutschen Herbsts“, rechnete er dagegen in der Farce „Die dritte Generation“[12], die einer seiner besten und bis heute unterschätzten Filme ist, mit dem ideenlosen Aktionismus und Terrorismus von deren Nachfolgern böse ab. Mit diesem Film verscherzte es sich Fassbinder auch mit den Schwulen. Brutale Zoten, zitiert von der prominenten Schwulenklappe am Berliner Wittenbergplatz, legten eine Spur von den Gewaltspielen der Ledermänner zum bösen Kasperletheater der Terroristen.
Die heikle Linie zwischen exzessiver individueller Selbstverwirklichung und politisch ausbeutbarer Triebstruktur zog ihn privat magisch an und suchte sich Ausdruck in seinem filmischen Reich der Zeichen. Die Erotik von Unterwerfungsritualen faszinierte ihn, sodass er sie noch in den banalsten Szenen kleinbürgerlicher Enge ebenso wie in der epischen Verfilmung seines großen Vorbild-Romans von Alfred Döblin, „Berlin Alexanderplatz“[13], umkreiste und in der Genet-Adaption „Querelle“[14]zum Thema machte.
„Fascinating Fascism“ war damals ein Thema, das über Susan Sontags Diskussion der Nuba-Bilder von Leni Riefenstahl und Filme wie „Saló“ von Pasolini und „Der Nachtportier“ von Liliana Cavani in den Medien rotierten. Fassbinder vergaloppierte sich, verlor den Kultstatus als befreiender Provokateur und sah sich gekränkt vor der Alternative, die Bundesrepublik zu verlassen. Mit seinem Hang, die Machtmänner seiner Fantasie mit mythischer Omnipotenz auszustatten und als hermetische Chiffren aufzuladen, handelte er sich 1976 zu Recht schärfsten Widerspruch ein. Fassbinder beendete damals seine kurze Zeit als Theaterintendant in Frankfurt am Main und schrieb sich seine Frustration über die Stadt mit der dramatischen Skizze „Müll, Stadt,Tod“, der Bearbeitung eines Romans von Gerhard Zwerenz, vom Leib. Darin ist ein Immobilienspekulant, Zyniker und Menschenverächter mit der Rollenbezeichnung „Jude“ der Schurke. Als „linksfaschistisch“ geißelte Joachim C. Fest das Stück und entfachte eine polemische Debatte, in deren Folge nicht nur die Publikation zunächst zurückgezogen wurde, sondern Fassbinders Projekte einer Verfilmung des Stücks und des als antisemitisch umstrittenen Romans „Soll und Haben“ von Gustav Freytag in den Förderungsgremien abgelehnt wurden. Zehn Jahre später entbrannte der Streit noch einmal um viele Grade heftiger.[15]
Fassbinder ist heute der Klassiker des neuen deutschen Films. Die Provokation, die er zu Lebzeiten darstellte, ist nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar. Manche Filme hinterlassen ein Gefühl masochistischer Larmoyanz und depressiver Verbissenheit, der nicht zum schrillen Pop passt, mit dem die Siebziger ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben werden. Oskar Roehler beruft sich auf Fassbinder, Tom Tykwer tat es in seinem Debüt, „Die tödliche Maria“, und dann nicht mehr, Christian Petzold besteht ebenso auf Gruppenarbeit am ästhetischen Konzept, aber unter dem Vorzeichen, so die Kontinuität zu halten in den extrem langen Pausen bis zum nächsten Projekt. Die Frauenbilder, vor allem der Frauen, die selber Filme machen, haben sich entschieden verändert, aber die Filme Chantal Akermans und Catherine Breillats sind Verwandte. Die Frage seiner Melodramen nach dem Politischen in den Emotionen ist offen. Fassbinders Kino ist kein Beitrag zu einer neuen Liebeskultur, aber voll Attacken gegen die verstockte Liebesunkultur seiner Zeit.
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