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■ Der Kosovo-Krieg und die Folgen (7): 50 Jahre nach den Genfer Abkommen folgt das Humanitäre Recht noch immer der PolitikBitter notwendige Nacharbeiten

Der Kosovo-Krieg und die anderen Kriege um Ex-Jugoslawien haben einige Kernfragen des Humanitären Rechts in Erinnerung gerufen – allen voran die nach der Pflicht zur menschlichen Behandlung aller Personen, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen. Hinzu kommt das 1949 im Genfer Abkommen fixierte Recht unparteiischer humanitärer Organisationen wie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), den am Konflikt beteiligten Personen ihre Dienste anzubieten, das in den Zusatzprotokollen von 1977 festgeschriebene Verbot unterschiedsloser Angriffe als Grundregel des Schutzes der Zivilbevölkerung und der für sie lebensnotwendigen Objekte und das 1945 mit der UN-Charta eingeführte Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt zwischen Staaten, außer zur Selbstverteidigung.

50 Jahre nach Inkrafttreten der großen Kodifikationen des Völkerrechts, die von den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und den Befreiungskriegen geprägt wurden, sollten zudem diejenigen Erfahrungen ethnisch-religiöser Konflikte – nicht nur auf dem Balkan – reflektiert werden, auf die Rechtslehre und Staatspraxis zunehmend die Antwort der „humanitären Intervention“ geben.

I. Am 26. April 1999, also einen Monat nach dem Umschlag des internen Konflikts zwischen den jugoslawischen Streitkräften und der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK in den externen Konflikt zwischen Nato und Jugoslawien und seiner Eskalation im Kosovo und ganz (Rest-)Jugoslawien, hatte das IKRK alle diejenigen, die an den Feindseligkeiten teilnehmen, an ihre Verpflichtungen zur Einhaltung des Humanitären Völkerrechts erinnert:

„Nach den maßgeblichen Grundsätzen des Humanitären Völkerrechts besteht die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schonen und sie in jeder Hinsicht menschlich zu behandeln, sie nicht gewaltsam zu vertreiben und ihr Eigentum zu achten. Insbesondere regelt der gemeinsame Artikel 3 der vier Genfer Abkommen, dass diejenigen Personen, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen, in jeder Beziehung menschlich zu behandeln sind. Er verbietet (...), ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit und ihre Würde zu bedrohen. (...) Gemäß den Regeln des Humanitären Völkerrechts haben die Konfliktparteien bei der Durchführung von Kampfhandlungen jede nur denkbare Vorsorge zu treffen. Dies schließt auch die Beendigung solcher Missionen ein, bei denen nicht hinreichend klar ist, ob das Ziel nichtmilitärischer Art ist oder ob der Angriff möglicherweise Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung hervorruft, die außer Verhältnis zu dem erstrebten militärischen Vorteil stehen würden.“

Am 26. Mai 1999, einen Monat nach der Steigerung des „dualen Konflikts“ zu einem „Säuberungs-“ und „Abnutzungskrieg“ mit dem Doppelversuch, einen „albanerfreien“ Kosovo zu erreichen und das Belgrader Regime durch Erschütterung der Existenzgrundlagen der Zivilbevölkerung zu entmachten, erinnerte der scheidende Präsident des IKRK, Cornelio Sommaruga, an den Preis dieses Krieges:

„Wir können mit Sicherheit sagen, dass das schlimmste Leid zur Zeit im Kosovo selbst stattfindet. Die Situation außerhalb ist nach wie vor unsicher, aber sie verbessert sich. (...) Hunderttausende Menschen leben in unwürdigen Bedingungen außerhalb ihrer Häuser und haben bisher noch keinen humanitären Helfer gesehen. (...) Meine Forderung an alle Kriegführenden ist sehr einfach: Lasst uns die Menschen im Kosovo sehen, und lasst sie uns sehen. Lasst uns ihnen helfen. Ich rufe alle Kriegführenden auf, die Regeln und Grenzen für Konflikte, wie sie in den Genfer Konventionen festgelegt worden sind, zu akzeptieren.“

Tatsache ist, dass bis zum Ende des asymmetrischen Aufeinandertreffens von jugoslawischen Boden- und alliierten Luftkräften so gut wie keine humanitäre Hilfe in dem umkämpften Gebiet stattfand – ein schlimmer Widerspruch zwischen dem Anspruch, eine humanitäre Katastrophe verhindern zu wollen, und dem des geltenden Humanitären Rechts, Menschen in Not hier und heute zu helfen! Zudem hat die Intervention bekanntlich der gegenseitigen Gewalt der Volksgruppen noch kein Ende zu setzen vermocht.

II. Für die Öffentlichkeit folgt daraus, dass beide Fragen – mehr noch das Recht im Krieg als das Recht zum Krieg – nachgearbeitet werden müssen. Wenn gerade in der deutschen Politik immer wieder betont wird, dass das Vorgehen der Nato eine Ausnahme bilde, bleibt die Frage: Ausnahme wovon? Von der Regel, die UN-Charta zu beachten, jedenfalls wenn der Sicherheitsrat durch ein Veto (Russland, China) blockiert wird?

Vom Washingtoner Vertrag, dem Nato-Gründungsdokument, und der Erklärung des Washingtoner Gipfels zum fünfzigjährigen Bestehen der Nato, die eine individuelle und kollektive Selbstmandatierung zu „Out of area“-Interventionen nie ausgeschlossen haben und auch jetzt nicht ausschließen? Und auch vom Humanitären Völkerrecht?

Allzu stark ist die Redeweise haften geblieben, das Recht müsse der Politik folgen und nicht umgekehrt. Nicht dass der Nato der Anspruch, auch Menschenrechte zu schützen, abgesprochen werden soll. Sicherlich ging es nicht nur darum, Miloševic endlich – nach drei vorangegangenen Jugoslawien-Kriegen – zu stoppen, endlich das Ruder von der Destabilisierung zur Stabilisierung des Balkan herumzureißen und einer neuerlichen Flüchtlingswelle nach Zentraleuropa zuvorzukommen. Nein – aber was bitter notwendig ist, wenn „Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!“ nicht zur Floskel, zum Selbstbetrug werden soll, ist die Aufarbeitung der Kernfragen des Humanitären Völkerrechts anhand des gesamten Kosovo-Krieges. Fragen wir also:

Wie hoch sind die Opfer und Schäden? Die Zahl der Toten unter den Soldaten und in der Zivilbevölkerung? Der Umfang der zerstörten militärischen und zivilen Objekte? Durch welche Beteiligten sind sie verursacht worden, und welche unmittelbaren und mittelbaren Folgen für die Bevölkerung haben sie – für ihre Versorgung, ihre Arbeit und ihre Gesundheit? In welchen Phasen verliefen die Vertreibungen, und welche Ereignisse haben sie ausgelöst und verstärkt? Hat man auf der politischen und militärischen Ebene versucht, die humanitär-völkerrechtlichen Standards einzuhalten? Hat es unterschiedliche Standards gegeben, und/oder sind die Standards unterschiedlich angewandt worden? Wie ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, an dem nicht nur das Recht im Krieg, sondern auch das Recht zum Krieg orientiert ist, ausgelegt und angewandt worden?

Und: Welche Lehren werden daraus gezogen, dass man den Waffengang auf beiden Seiten – zugespitzt – mit geringem Risiko für die Kombattanten und hohem Risiko für die Zivilbevölkerung führte und dass der Krieg eher politisch als militärisch beendet wurde, zumindest die auf den beiden Seiten eingesetzten Gewaltmittel nicht ihre Ziele erreichten?

III. Dabei ist zu erinnern, dass die USA und Frankreich das I. Zusatzprotokoll bis heute nicht ratifiziert haben und dass es insbesondere zum Luftkrieg – und dies ist für alle Nato-Staaten von Belang – nur vage Regeln aufweist. Nicht nur für die sogenannte Verbreitung des Humanitären Völkerrechts, die – besonders, was das II. Zusatzprotokoll über den Schutz der Opfer angeht – offenkundig in Jugoslawien versagt hat, sondern auch für seine weitere Entwicklung sind also ein „fact finding“ und eine rechtspolitische Debatte notwendig. Diese Debatte sollte nicht nur die Voraussetzungen und Folgen humanitärer Intervention umfassen, die in Deutschland – wenn auch mehr in der Öffentlichkeit als in der Politik – den breitesten Raum eingenommen hat. Interventionen wie die im Kosovo müssen vielmehr – und „erst recht“ – den Regeln des Humanitären Rechts folgen.

Diese zweifache Diskussion kann nicht an die bisher nur schwach entwickelte völkerrechtliche und völkerstrafrechtliche Justiz in Den Haag abgetreten werden. Sie muss gerade im Interesse eines Ausbaus neuer, ziviler Strukturen auf dem Balkan und in ganz Europa von der Politik aufgenommen werden. Volker Kröning

Das Rote Kreuz hatte die Kriegsteilnehmer vor der Eskalation an ihre Pflichten erinnertBis zum Kriegsende fand so gut wie keine humanitäre Hilfe im Kosovo selbst statt

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