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Der Kollwitz-Typ

■ Lotte Loebinger, Jahrgang 1905, Ostberlin, Schauspielerin, Kommunistin, las in Worpswede

Die ganze Situation ist so knorrig weihevoll wie die Bäume entlang der Landstraße nach Worpswede im Dämmern, aber ohne Wind. Die stehen so still gestanden, als hätten sie alle Stürme ein für allemal gemeistert. Das macht die worpswedische Vergangenheit, die die Gegenwart kolonisiert, daß man vorsichtig fährt wegen eventuell auftretendem Künstlerwechsel. Lotte Loebinger paßt eigentlich gut hierher.

Hier - das ist an diesem Sonnabend das Worpsweder Rathaus, ein ehemaliges Bauernhaus, baumumwipfelt, innen sauber geklinkerte niedere Düsternis. Von der Decke dräuen schwarze Balken, von nichts zu biegen, weil hier nicht gelogen wird. Die Gemeinde ist künstlergottesdienstlich vollzählig versammelt und sitzt wie ein Ergriffener auf diesen hehren, hochlehnigen Strohgeflecht-Stühlen, als wären's lauter Stücke von Vogeler. Niemand zappelt, hustet oder scharrt.

Lotte Loebinger, aus großer Zeit große alte gediente Schauspielerin aus Ostberlin, sitzt vorne im Kegel einer Lampe, die kleinen weißen Haare hinten ein wenig zusammengefaßt, am mageren Körper enges Schwarz, und liest vor. Aus Käthe Kollwitz‘

Briefen und Tagebüchern mit dem Titel „Ich will wirken in dieser Zeit“.

Und durch diesen finsteren Tann-Saal klingt ihre Stimme, als würde Allerleirauh aus einer Nußschale raunen, vielleicht ein bißchen akzentuierter, aber nur ein bißchen. Man möchte vor ihr erschauern; wirklich vor ihr? Sind es nicht vielleicht die großen Namen, die Namen der künstlerischen Avantgarde unseres Jahrhunderts, deren Originalität das meiste Jetztzeitige auf sein Würstchentum verweist?

Lotte Loebinger gehörte zu jenen 20er-Jahre-Frauentypen, deren spöttische Eleganz und kluge Schönheit ausgestorben sind, nein, ausgerottet, weil der Nationalsozialismus ja funktioniert hat.

Lotte Loebinger ist eine Person mit einem Leben; aus dem ließen sich spielend mehrere machen. Sie hat heimlich Schauspielunterricht genommen, wird gleich beim ersten Vorsprechen am Kieler Stadttheater engagiert, weiß, was sie will, will Mitglied werden bei der neugegründeten Piscator -Bühne in Berlin, hat Brecht gekannt, bei Mühsams gewohnt. Mit 20 Jahren tritt sie in die KPD ein. Außerdem war sie erste Frau

von Herbert Wehner. 1933 emigriert sie zuerst nach Polen, später in die UdSSR. Sie arbeitet in Gustav von Wangenheims Theatergruppe „Kolonne links“ mit und trifft im Moskauer Exil den Worpsweder Maler Heinrich Vogeler, der ein wunderbares Porträt von ihr malt, das heute in Ostberlin hängt.

Lotte Loebinger wird SU-Bürgerin und eine, die von sich sagt: „Wir waren alle Stalinisten“, und “...ich rechnete jeden Moment damit, auch verhaftet zu werden. Ich hätte es verstanden: Die Partei weiß mehr über mich als ich selbst!“

Lotte Loebinger liest also aus Käthe Kollwitz: Da ist sie wieder, diese weihevoll qualvolle Düsternis, dieses „du mußt durch, durch durch dieses Leben“. Ein Leben, in dem lächelnde Kinder sterben im Herbst, mit Sätzen: „Worauf es ankommt, daß man seinen Kampf führt.“ Das Maß von Ertragenmüssen ist niemals voll.

Als sie erschöpft nach einer Stunde endet, wollen einzelne ihre Hand drücken wie eine Reliquie und scheuen sich vor einem Autogramm. Ein alter Mann wirft sich ihr entgegen, sein Sohn sei im Krieg gefallen, er kenne den Schmerz.

Warum Käthe Kollwitz, die Schmerzensreiche, frage ich sie? Sie holt ihre Antwort wie aus der Tiefe des Raums: „Ich fühle mich ihr sehr verbunden, wir haben beide zwei Weltkriege durchlitten. Früher hat man mich auch als Kollwitz-Typ bezeichnet. Ihre

Kunst hat mir viel gegeben.“ Was? „Ja, ich zappel‘ nicht viel rum auf der Bühne, ich hab‘ meine Wirkung ziemlich im Statischen“, sagt sie da. Und steht so still gestanden, als hätte sie alle Stürme ein für allemal gemeistert. Claudia Kohlhas

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