Der Kirchentag und das politische Europa: „Europa braucht eine Seele“
Finanzkrise, Brexit, Rechtsruck: Europa steht gerade ziemlich schlecht da. Kann der Glaube da noch etwas retten?
Finanzkrise, Brexit, Populismus: Staubtrockene Begriffe, mit denen man am liebsten nichts zu tun haben will. Sie wirken bedrohlich, unliebsam und fallen unter die Kategorie „Die da in Brüssel werden das schon irgendwie klären“. Christen und Christinnen auf dem Kirchentag haben eine andere Art gefunden, mit dem Thema umzugehen: Sie tanzen. Beten, singen und besinnen sich auf das, worauf Europa seine Grundsteine gelegt hat: Gemeinschaft.
Die Podiumsdiskussion „Europa eine Seele geben“ auf dem 36. Kirchentag in Berlin ist für zwei Stunden angesetzt. Es ist einer der Programmpunkte, die ans Eingemachte gehen: Liebe, Spiritualität und Nächstenliebe knallt hier auf harte Politik. Mag man denken. Denn anstatt zwei Stunden zu diskutieren, wird das Programm in regelmäßigen Abständen mit einem gemeinsamen „Halleluja“ und Tanzeinlagen aufgelockert. Ist das jetzt produktiv oder flüchtig?
Die Europäische Union steht auf wackeligen Beinen. Interessen- und Entscheidungskonflikte spalten die Gemeinschaft, welche vor sechzig Jahren mit den Römischen Verträgen als Antwort auf die brutalen Anfänge des 19. Jahrhunderts gegründet wurden. Wenn sich schon immer weniger Politiker*innen auf den einheitlichen europäischen Gedanken besinnen können – kann es dann wenigstens der christliche Glaube? Kann Nächstenliebe zu einem einigen Europa führen?
„Auf jeden Fall“, meint die Politologin und Ethikerin Jeannette Behringer, „hat die christliche Gemeinschaft das Potenzial, Europa zu stärken, wenn es in einer demokratischen Öffentlichkeit auch die eigenen offenen Fragen verhandelt.“
Tausende Geflüchtete an Polens Grenzen
Wie das konkret aussehen soll, ist eine andere Sache. Eine Positionierung, geschweige denn einen Fahrplan zu einem einigen Europa seitens des europäischen Christentums gibt es bisher nicht. Deswegen hat Jeannette Behringer mit ihren Kolleg*innen, die ebenfalls auf dem Podium vertreten sind, die „European Christian Convention“ (ECC) gegründet. Die Idee ist es, auf einer Konferenz Christ*innen aus ganz Europa zu vereinen, um miteinander eine Vision für ein geeintes Europa auszuarbeiten. Und natürlich um zu tanzen, zu beten und in Gemeinschaft zu sein.
Betrachtet man die polnische Abschottungspolitik, klingt die Idee, christliche Werte könnten Europa helfen, schwierig. In Polen hat die römisch-katholische Kirche einen großen Einfluss auf die Politik, und trotzdem ist in der PiS-Partei wenig an Nächstenliebe zu entdecken. An den Außengrenzen Polens kämpfen Tausende Geflüchtete um ihr Leben.
„Die einen universalen christlichen Vorstellungen gibt es nicht“, sagt Behringer. Es gibt orthodoxe, evangelische, katholische Auslegungen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Genauso wie die katholische Kirche in Polen sich von der in Frankreich unterscheidet. Müssten nicht erst mal die Konflikte unter Christen geklärt werden, damit sie Europa bereichern können? „Wir haben noch viele Hausaufgaben zu machen“, gibt Behringer zu. „Es gibt den Diskurs zur christlichen Vorstellung Europas, allerdings sollte er viel öffentlicher ausgetragen werden. Eigentlich wünsche ich mir eine christliche Bewegung für Europa.“ Diese soll auf dem ECC ihre Anfänge finden. Geplant ist die Konferenz für 2022.
Bei der Podiumsdiskussion auf dem Kirchentag dürfen die Teilnehmenden ihre Wünsche und Ideen auf Sterne schreiben. „Das Zusammenkommen soll zwischen den verschiedenen Konfessionen Brücken schlagen“, sagt einer. „Wir müssen uns auf unsere Grundwerte der Nächstenliebe, Solidarität und Toleranz besinnen“, sagt ein anderer.
„Wir müssen konkreter werden!“
Ein Vertreter der Bewegung „Pulse of Europa“ unterbricht das Gesuhle in den Wohlfühlbegriffen. „Wir müssen konkreter werden! Was bedeuten diese Werte, wenn es zu Konflikten in Europa kommt?“
Überall wird diskutiert, verhandelt, und gestritten. In Parlamentssitzungen, in Arbeitsgruppen, auf politischen Podien oder in diplomatischen Verhandlungen. Nur eben ohne Tanzeinlagen und gemeinsamen Singen. Heraus kommen dabei bislang eher politische Kompromisse statt Einigungen – siehe Brexit. Das Vorhaben und die Idee des Austauschs ist ja gut und schön. Aber wenn es an der Umsetzung scheitert, was dann?
Wenn das christliche Potenzial nicht auf politischer Ebene umgesetzt werden kann, dann doch wenigstens auf ziviler. Daraus schöpft auch Behringer Hoffnung. „Die Kirche bietet Räume des Austauschs und der Gemeinschaft, wo sich Menschen zu Bewegungen formieren können. Die lokalen Initiativen können sich mithilfe christlicher Netzwerke verbinden und ihre Kräfte bündeln.“
Es sind zivile Organisationen wie zum Beispiel „Pulse of Europe“, die eine reformative Wirkung von unten nach oben freisetzen können.
Klingt das zu spirituell?
„Europa braucht nicht nur Institutionen und Rechte, sondern auch eine geistliche Komponente, eine Seele!“, wird auf dem Podium gefordert. Und auch: „Technokratie ist eine Gefahr. Wie der französische Politiker Jacques Delors schon sagte: ‚Man kann sich nicht in den europäischen Binnenmarkt verlieben.‘“
Ganz so bürokratisch und trocken ist Europa dann doch nicht. Immerhin heißt es in der 15. Präambel des EU-Vertrags: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“, wird beschlossen, eine Europäische Union zu gründen.
In den Ohren der europäischen Parlamentarier*innen mögen sich Begriffe wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im politischen Kontext dennoch exotisch und spirituell anhören. „Alleine kann der Glaube Europa nicht retten“, sagt Behringer. „Aber eben unterstützen.“ Solange tanzen, lachen und unterhalten sich Christ*innen weiter. Vielleicht sollten sich Politiker*innen ja mal anschließen.
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