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Der HausbesuchDenkerin der Gefühle

Ohne den Feminismus wäre Hilge Landweer wohl keine Philosophin geworden. Inzwischen ist die Professorin im Ruhestand – und gerne im Garten.

Hilge Landweer will nicht nur die Schrecken der Welt wahrnehmen, sondern auch ihre Schönheit Foto: Tina Eichner

Als Philosophin hat sich Hilge Landweer viel damit beschäftigt, wie Gefühle mit Macht zusammenhängen. Ihr Fazit: „Dass man genauer hinguckt, dass man achtsamer ist.“

Draußen: Regen. Hilge Landweer steht am Fenster ihres Hauses im Südwesten Berlins und zeigt in den Garten. „Das ist eine einzige Rose“, kommentiert sie das üppige Geäst, das sich über das Gartenhaus legt wie ein zweites Dach. Der Garten hat ihr oft geholfen, etwa wenn es schwierig war im Beruf – „weil man im Garten buchstäblich geerdet ist“. Sie genießt dort gerne die Schönheit. „Ich finde es wichtig, das wahrzunehmen, dass es das auch noch gibt.“ Auch im Ruhestand ist der Garten für sie wie ein Fluchtort. Er sei eine andere Welt „neben dem Schrecken und den Entwicklungen in der Gesellschaft, der politischen Welt“.

Drinnen: Da gibt es ebenfalls viele Pflanzen, außerdem stapelt sich in ihrem Arbeitszimmer Papier: Briefe, Akten, Bücher über Emotionen. Im Regal steht ein Foto von ihr inmitten einer Gruppe von Frauen. Der Austausch mit anderen Frauen ist und war Landweer immer wichtig. Es ging darum, sich zu unterstützen „in der Freude an der eigenen Intellektualität“.

Ruhestand: Bis zu ihrer Berentung 2023 war Hilge Landweer Philosophieprofessorin an der Freien Universität in Berlin. „Ich bin dankbar, dass ich gegangen bin, als die Atmosphäre im Fach wirklich gut geworden war.“ Für eine Atmosphäre, in der sich alle wohlfühlen, hat sie gekämpft. Sie hofft, dass der Rechtsextremismus nicht noch mehr Einfluss nimmt und alles, wofür sie kämpfte, wieder kaputt macht. „Das halte ich nicht für unwahrscheinlich“, sagt sie heute.

Aufwachsen: Hilge Landweer ist 1956 in Bremen geboren, „in eine typische Lehrerfamilie hinein“. Während der Schulzeit war sie eine Zeit lang Schulsprecherin. „Ich gehöre nicht zu denen, die mit 12 oder 14 die,Kritik der reinen Vernunft' gelesen haben“, sagt sie. „Ich habe stattdessen das Kommunistische Manifest gelesen.“ Sie engagierte sich in K-Gruppen. Der Kommunismus hat sie fasziniert.

Studium: Nach dem Abitur studierte Landweer Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte in Kiel. „Im Studium bin ich erst mal verstummt. Ich fand es sehr auffällig, dass sich fast ausschließlich Männer äußerten in diesen Fächern“, sagt sie. Die Philosophie dort sei konservativ gewesen.

Von ihrer ersten Frauengruppe hat Landweer noch ein Foto im Regal Foto: Tina Eichner

Feminismus: Als sie nach dem Grundstudium nach Bielefeld wechselte, sei vieles anders geworden. „Es war eine Reform­uni­versität. Dort wurden ganz andere Inhalte gelehrt.“ Und doch sei die Philosophie auch in Bielefeld männerdominiert gewesen. „Ich hätte niemals promoviert, wenn es da nicht schon den Feminismus gegeben hätte.“ Landweer organisierte sich mit Studierenden und Wissenschaftlerinnen, die einen Universitätsschwerpunkt zu interdisziplinärer Frauenforschung gründeten. „Wir waren die erste feministische Frauenforschungseinrichtung.“ Ihr Verhältnis zum Fach war immer durch die Frage bestimmt, „was Philosophie überhaupt ist“, wie empirisch sie etwa sein dürfe. Landweer hat sich gefragt: „Was sind das für Ausschlussprozesse, die entscheiden, ob das Philosophie ist? Das sind natürlich Machtprozesse.“

Kraft: Ihre Promotion trägt den Titel „Das Märtyrerinnenmodell. Zur diskursiven Erzeugung weiblicher Identität“. Landweer erzählt: „Etliche haben es abgelehnt, die Arbeit zu begutachten, weil ihnen das zu feministisch war.“ Der Austausch mit anderen Frauen habe ihr erst die Kraft gegeben zu sagen: „Das, was ich mache, ist Philosophie. Und ich bestehe darauf, dass es als Philosophie anerkannt wird.“

Pragmatismus: Während der Promotion wurde sie schwanger, nach der Geburt war sie alleinerziehend. „Ich glaube, ich bin durch das Kind schneller geworden beim Promovieren, weil ich wusste, ich muss fertig werden und Geld verdienen.“ Landweer kam es vor, als lebte sie in zwei Welten. „Ich wusste, ich kann mich in beiden Welten nicht so engagieren, wie ich es eigentlich will.“ Und doch hätte ihr Muttersein von der Philosophie profitiert, die helfe, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Die Erfahrungen als Mutter wiederum prägten ihr Denken.

Proteste: Schließlich kam Landweer nach Berlin. Studentische Streiks an der Freien Universität (FU) hatten dafür gesorgt, dass neue Stellen ausgeschrieben wurden, „mit feministischen Inhalten in verschiedenen Fächern“. Sie wurde sowohl für feministische Soziologie als auch für Philosophie eingeladen, in der Philosophie klappte es. Die Stelle als wissenschaftliche Assistentin an der FU trat sie 1991 an, kurz nach der Wende. Durch die Studentenbewegung, sagt sie, war „enorm viel los“. Neben theoretischen Debatten hätten Fe­mi­nis­t:in­nen sich bekriegt, gefragt, was der richtige Feminismus sei und wer „die Radikalste“. Die Atmosphäre in der Philosophie habe sich zum Positiven verändert. „Es war nicht mehr so, dass man als Frau ständig unterbrochen wurde.“ Landweer kam es als Dozentin darauf an, auch die Stillen dranzunehmen.

Identifikation: Sie begann, sich sehr mit dem Fach zu identifizieren – bei aller Kritik. Landweer fand, dass manche Kategorien in der Philosophie „völlig lebensfern“ waren. Wenn noch nachvollziehbar sei, wie sie zustande gekommen sind, kämen sie aus Lebensbereichen von Männern. Das wollte, konnte sie nun ändern. Persönlich habe sie sich immer wieder gefragt: „Wie kann ich die Philosophie als Instrument für meine eigene Erkenntnis nutzen?“

Phänomenologie: Landweer merkte, dass sie Erfahrungen aus dem Leben philosophisch betrachten konnte, begeisterte sich für die Phänomenologie, die die Erfahrung, also das Erleben beschreibt. „Die Phänomenologie war eine Bewegung, die sich gegen etablierte Fragestellungen richtete. Und in der frühen Phänomenologie“, betont sie, „gab es viele Frauen.“ Phänomenologie und Feminismus würden zusammenpassen, weil beide vom Erleben ausgehen.

Superhelden-Bücherregal in Landweers Arbeitszimmer Foto: Tina Eichner

Gefühle: Dabei wendete sie sich gegen die strikte Trennung zwischen Rationalität und Emotionalität. „Man muss beide Begriffe natürlich unterscheiden, aber Emotionen haben sehr viel mit Rationalität zu tun.“ Sie wurde zu einer Spezialistin für die philosophische Betrachtung von Gefühlen – und ihre Verbindungen zwischen den Menschen. „Es ging mir von Anfang an um die Sozialität der Gefühle. Es ist erstaunlich, wie sehr wir Gefühle mit anderen teilen und nicht für uns alleine haben.“

Scham: Ihre Habilitation schrieb sie über Scham und Macht. „In die Scham als Gefühl ist das Soziale unübersehbar eingelassen“, sagt Landweer. „Es wird auch Politik damit gemacht, dass andere beschämt werden.“ Zugleich sei Scham wichtig, damit Menschen sich an Normen halten.

Verachtung: Für unsere Gegenwart beschreibt sie eine andere Emotion als typisch. „Jeder kulturelle Zusammenhang hat seine eigenen dominanten Gefühlslagen. Und ich glaube, bei uns handelt es sich weitgehend um ein Gefühl kultivierter Verachtung.“ Das sehe man gegenwärtig etwa an Debatten über das Bürgergeld für Menschen aus der Ukraine. Dass die Verachtung hoch im Kurs sei, hänge damit zusammen, dass es überall ein „Ranking“ gebe. „Menschen vergleichen sich sehr stark durch Noten, das ist bei uns stark ausgeprägt.“ Es führe dazu, dass ein Über- und Unterlegenheitsgefühl auftrete. „Und ein Überlegenheitsgefühl entwickelt sich oft zu Verachtung.“ Dass dieses Gefühl heute stärker verbreitet sei als in den 60er und 70er Jahren habe viel mit dem Neoliberalismus zu tun und „dem Zuschreiben von Eigenverantwortung“.

Perspektive: Landweer hatte Vertretungsprofessuren in Deutschland und Österreich inne, bis sie 2008 schließlich als Professorin an die FU berufen wurde. Sie brauchte einen langen Atem. Es sei bemerkenswert, was Institutionen mit Menschen machen, „und zwar sowohl, wenn man nicht reinkommt, als auch, wenn man drin ist“, sagt sie. Bei der Entfristung war sie 58 Jahre alt. „Es hat sehr lange gedauert, bis ich eine Professur bekommen habe. Man kann meine Biografie entweder so sehen, dass ich viel Glück hatte oder viel Pech.“

Bedrückung: Heute macht ihr der Rechtsextremismus Sorgen. Sie hat Angst, dass die Errungenschaften im Fach wieder „zurückgedreht“ werden, sagt sie, und hofft, dass etwas davon überdauert. „Ich glaube, dass die queere Community zu Recht Angst hat, und auch alle linken gesellschaftskritischen Perspektiven in der Wissenschaft haben zu Recht Angst.“ Diese Erfahrung beschreibt sie ebenso wie Stress als leibliche „Engungserfahrungen“. „Man ist bedrückt, das ist leiblich engend.“

Weitung: Ganz anders sei es bei der Freude, die die Phänomenologin eine „Weitungserfahrung“ nennt. Die erlebt sie auf Konzerten oder eben im Garten: „Wenn man in einen Garten geht, dann hat man diese Weitungserfahrung, da sind viele Anlässe für Freude, die es sonst nicht gibt.“

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