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Der HausbesuchDas Huhn ist ein Freigeist

Lasse Brandt ist Hühnerbeauftragter. Über die eigensinnigen Tiere weiß der 32-Jährige so gut wie alles. Zum Beispiel, dass sie gerne Radio hören.

„Hühnerhirte“ Brandt mit seiner einjährigen Tochter im Wohnzimmer in Werder Foto: Jens Gyarmaty

Seine Vorfahren fuhren zur See, Lasse Brandt aber bleibt lieber an Land. Immerhin ist er in Werder an der Havel von Wasser umgeben.

Draußen: Für die 27.000-Einwohner-Stadt beginnt gerade die Obstbaumblüte, in und um Werder wird sie touristisch beworben. Jetzt, Anfang April, ist die Zeit, in der die kahlen Äste, die im Winter wirken, als hätte jemand in zackiger Schrift etwas in den Himmel gekritzelt, ihre harten Konturen verlieren und in Pastellfarben weich zu leuchten beginnen. Den Einstieg machen japanische Zierkirschen und Felsenbirnen. Letztere essbar. Auch die Pfirsichbäume sind schon weit.

Drinnen: Lasse Brandt muss heute die einjährige Fenja umsorgen, die Care-Arbeit ist aufgeteilt. Seine Frau arbeitet als Fundraiserin für Kita- und Schulgärten. Im Wohnzimmer ist alles ausgerichtet auf die Kleine. Spielzeug in knalligen Farben, Bälle, Bauklötze, Bilderbücher nehmen viel Platz ein. Auch eine Minirutsche, die an eine Hühnerleiter erinnert, steht da. Überhaupt steht in der Wohnung einiges, das mit dem Federvieh zu tun hat. Hühnernippes, Hühnermobile, Fußabtreter mit Hühnermotiv. „Die Leute schenken mir immer was mit Hühnern“, sagt Brandt. Immerhin: Im Flur hängt ein Foto, das Wasserbüffel zeigt.

Die Hühner: Lasse Brandt hat einen besonderen Beruf. Er ist „Hühnerbeauftragter“ für den Biolandverband. Er berät, wenn jemand wissen will, wie Hühnerhaltung funktioniert. Welcher Stall, welche Auflagen, welche Impfungen, wo kriegt man Hühner her und Futter, wie geht die Eiervermarktung? Wenn es ein Problem gibt, wenn die Hühner keine Eier legen, auf dem Boden schlafen statt auf den Sitzstangen, sich oder anderen die Federn ausrupfen, wird der „Hühnerflüsterer“ gerufen. Im Wörterbuch der Brüder Grimm von 1875 gibt es zudem den „Hühnerhirten“. Brandt ist einer, obwohl er gerade keine eigenen Hühner hat, die holt er erst nach dem Gespräch beim Züchter ab. Angst, dass seine Nachbarn sich wegen des Krähens in aller Herrgottsfrühe echauffieren, hat er keine. „Das ist eine Frage, auf die eher Großstadtmenschen kommen.“

Ein Plüschhuhn für Fenja Foto: Jens Gyarmaty

Das Meer: Brandt ist in Wilhelmshaven aufgewachsen. Er kommt aus einer Seefahrerfamilie. Urgroßvater, Großvater, Vater fuhren übers Meer. Sein Vater war acht Jahre Kommandant auf der „Gorch Fock“, dem Segelschulschiff der Marine. Als solcher habe er einiges mitgemacht. Was genau, spart sein Sohn aus. „Keiner in der Familie hat sich der Scholle zugewandt so wie ich“, sagt er und meint damit die Erdscholle. Wobei ganz ohne ein Boot geht es auch bei ihm nicht – Segeln, das sei „so ein Familiensport“. Brandt hat eine kleine Jolle. „Natürlich ist es ein wenig nutzlos, in Havelbuchten im Kreis zu fahren. Nicht zu vergleichen mit dem Meer.“ Es sei eher wie Spazierengehen auf dem Wasser. Am besten mit etwas zu trinken und einem Freund zum Reden an Bord. Nur das mit den Liegeplätzen sei schwierig – obwohl rund um Werder doch überall Wasser ist. Noch. Brandenburg ist eine extrem trockene Gegend in Deutschland.

Freie Wahl: In seiner Familie wurde keiner gezwungen, in die Fußstapfen der Vorfahren zu treten. „Wir sollten das tun, wonach uns der Sinn steht.“ Mit „wir“ meint er seine zwei Schwestern und sich. Lasse Brandt stand der Sinn nach Tieren, schon als kleiner Junge seien sie sein Ein und Alles gewesen. Biologie wäre für ihn theoretisch eine Option gewesen, doch „dafür hat mein Abi nicht gereicht. Der Numerus clausus war zu hoch.“ Er studierte stattdessen ökologische Landwirtschaft. „Das hat gepasst.“

Eier sammeln: Lasse Brandt ist norddeutsch zurückhaltend. Selbst wenn er begeistert ist, klingt, was er sagt, nüchtern. „Im Bachelorstudium habe ich festgestellt: Hühner sind die spannendste Tierart.“ Spannendste Tierart? Warum? „Weil sie eine Randerscheinung sind.“ Rind, Schwein – das seien die Brecher bei der Masttierhaltung. Er dagegen interessierte sich auf einmal für Hühner. „Melken macht mir keinen Spaß, Eier sammeln schon.“ Und nach einem kurzen Moment, in dem er nichts sagt, fügt er hinzu: „Dann passt das doch zu Ostern.“

Hühnerwissen: Die Wissenslage über die Hühnerhaltung sei spärlich. Er habe sich daher alles angeeignet, was er kriegen konnte. Den Rest lernte er in der Praxis. Seit 2018 ist er als Geflügelexperte unterwegs. Weil Beratung nicht alles ist, ist er auch Geschäftsführer der Erzeugergemeinschaft Brandenburger Bio-Ei, die er mit aufgebaut hat. Zudem ist er auf dem Biohof Werder landwirtschaftlich tätig. Drei Familien experimentieren dort mit neuen Formen der Nebenerwerbslandwirtschaft. Er ist für die Hühner zuständig. Andere für Wasserbüffel, Schafe und den Gemüseanbau.

Überzeugungen: Eier sind wichtig. Das weiß man nicht erst, seit der Eierpreis in den USA ein Politikum ist. Früher hätten Hühner im Jahr etwa 20 Eier gelegt, heute 300 – auch im Biolandbau. Manche Öko-Höfe hätten über 30.000 Tiere. Brandt ist ein Verfechter der mobilen Hühnerhaltung, bei der Hühnerhäuser immer mal wieder ihren Standort wechseln. Denn freilaufende Hühner bleiben gerne in der Nähe des Hühnerhauses. Dort, wo sie rumlaufen, wächst ob ihres Gescharres und Gepickes bald nichts mehr. „Wird das Haus aber umgesetzt, ist das gut für den Boden, gut für die Insekten, gut für die Hühner, gut für den Menschen.“ Man darf sich die Hühnerhäuser, die es dabei zu transportieren gilt, gerne so groß vorstellen wie einen Zugwaggon, denn mitunter leben darin Tausende Tiere. „Mobile Hühnerhaltung gibt es im Osten nicht so“, Brandt will das ändern.

wochentaz

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Der unerwünschte Hahn: Für Hähnchenfleisch wird Mastgeflügel gezüchtet, dessen Fleisch zart ist. Legegeflügel ist eine andere Zuchtrichtung. Ihr Fleisch ist fest, denn Eier legende Hennen müssen einiges aushalten. Bei der Zucht von Legegeflügel kommen aber gleich viele Hähne wie Hennen zur Welt – was tun also mit dem sogenannten Bruderhahn? Kükentöten ist verboten, in der ökologischen Landwirtschaft sowieso. Der Bruderhahn sei ein „Koppelprodukt“, er wird aufgezogen, obwohl er zäh ist, keine Eier legt und bestenfalls für Hühnersuppe taugt. Brandt appelliert an das Gewissen der Verbraucher und Verbraucherinnen: „Wenn alle, die Eier essen, auch Suppenhühner kaufen und daraus Suppe kochen würden, würde das helfen.“

Therapieren: Was aber genau kann Brandt tun, wenn Hühner sich merkwürdig verhalten? Wenn sie, wie neulich, als er gerufen wurde, vor der Luke des Hühnerstalls schlafen und sich gegenseitig tottrampeln? Und wie kann er helfen, wenn die Hühner unruhig sind und keine Eier legen? „Dann gucke ich mir das genau an“, sagt er. Eigentlich geht er vor wie eine Kinderpsychotherapeutin. Er überlegt, was die Eltern, in seinem Fall die Hühnerhaltenden, falsch machen. Er rede mit ihnen, gucke sich den Stall an. Hühner etwa gehen dahin, wo Licht ist. Durch die Luke beim obigen Notfall sei Licht reingefallen, deshalb hätten sich alle Tiere dort aufgehalten. „Man kann eine Lampe aufhängen“, sagt er. Einfach, oder? Manchmal käme man auch auf ungewöhnliche Lösungen. „Hühner lieben Menschenstimmen, für die unruhigen Tiere kann man ein Radio im Hühnerstall aufstellen.“

Eier gibt es im Hofladen auf dem Biohof Werder zu kaufen Foto: Jens Gyarmaty

Freiheitsdrang: Ob Hühner schlau seien? Brandt bejaht, er sehe ihre Klugheit, auch wenn andere die Tiere dumm fänden. Hühner seien sehr gut darin, schnell an Futter zu kommen. Auch dass sie einen Hang hätten, nicht das zu tun, was der Mensch möchte, gefällt ihm. Im Huhn sei der Drang nach Freiheit verwirklicht, wenn man es nur ließe. „Wenn sie einen angucken mit ihren Augen, ihrem Schnabel.“ Ja, was dann? „Hühner gucken einen sehr genau an, entweder es verunsichert einen oder man liebt das“, antwortet er. Ob der Mensch die Hühner dumm findet, weil sie nicht tun, was der Mensch will? „Kann man so sagen.“

Noch eine letzte Frage: Was halten Sie denn eigentlich von Merz? „Na ja“, sagt Brandt, „mal gucken, was der noch an Ideen der Grünen aufnimmt, die er vorher blockiert hat.“

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