Der Hausbesuch: Es sollte allen gut gehen
Helga Gerofke hat in vielen Staatsformen gelebt: Weimarer Demokratie, NS-Diktatur, DDR-Sozialismus. Die Kommunistin wird bald 100 Jahre alt.
Es sind die gesellschaftlichen Umbrüche, die im Rückblick eines hundertjährigen Lebens in den Blick geraten. Da, wo etwas auseinanderbricht und nicht mehr zusammengefügt werden kann.
Draußen: Die genossenschaftliche Wohnung in Halle, in der Helga Gerofke wohnt, liegt am Pestalozzipark unweit der Saale. Drei Zimmer, Küche, Bad. Daneben steht das Leuna-Chemie-Stadion, in dem der Hallesche FC gerade vergeblich gegen den Abstieg aus der 3. Fußball-Liga gekämpft hat. Gerofke wurde 1924 in Halle geboren, war dann eine Weile weg, kam aber vor fast 70 Jahren mit ihrem zweiten Ehemann und den beiden Kindern aus erster Ehe wieder in die Stadt und zog in diese Wohnung. Seit dem Tod des Mannes 1999 lebt sie alleine hier.
Drinnen: Frau Gerofke hat Kuchen gebacken. Nur ungern lässt sie sich beim Tischdecken helfen, weil sie sich dann als schlechte Gastgeberin fühlt. In beiden Wohnräumen stehen Regale voller Bücher, darunter viele Biografien, etwa vom ehemaligen DDR-Spionagechef Markus Wolf. Ein Lieblingsbuch hat sie nicht, aber, darauf legt sie Wert: „Ich habe alle gelesen!“ Inzwischen aber fällt ihr das Lesen schwer, auch mit Lupe. Deswegen hat sie gerade schweren Herzens ihre Zeitung abbestellt, das nd, ehemals Neues Deutschland. Jetzt sieht sie sich noch die Nachrichten im Fernsehen an, guckt aber auch gern die neuen Folgen von „Rote Rosen“. Und über einen Film mit Alain Delon würde sie sich freuen. Für den hat sie immer geschwärmt.
Alltag: Ein Enkel, der auch in Halle wohnt, kauft für Helga Gerofke ein und kümmert sich um sie. Auch freundliche Nachbarinnen und Nachbarn sehen nach ihr. Sonst kommt sie allein klar, hält die Wohnung in Schuss und bereitet ihr Essen zu. Nur allein vor die Tür möchte sie nicht mehr. Sie wohnt im zweiten Stock, die Stufen seien mühsam, sie habe Angst hinzufallen.
Onkel Werner: Helga Gerofke ist bis zur 8. Klasse in die Schule gegangen und musste dann zur Kur nach Herbolzheim im Breisgau, weil sie einen Blutsturz hatte und Luftveränderung brauchte. „Dann“, erzählt sie, „dachte ich, jetzt kann ich machen, was ich will, nämlich Verkäuferin lernen, aber die Stadtverwaltung sagte, ich müsse erst mal ein Pflichtjahr in einer Familie absolvieren.“ Das hatten die Nazis eingeführt, um Frauen zu einer hauswirtschaftlichen Ausbildung zu zwingen. Zu dem Zeitpunkt sei gerade ihr kommunistischer Onkel Werner zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, im Strafbataillon 999. „Der konnte doch keiner Menschenseele etwas zu Leide tun und hat mir immer Schokolade mitgebracht.“ Seine Frau, also ihre Tante, hatte gerade Zwillinge bekommen, und sie habe dann dort ihr Pflichtjahr gemacht. Wobei niemand wissen durfte, dass es ihre Tante war. „Erst danach habe ich Verkäuferin gelernt in der Konditorei König am Markt in Halle.“
Arbeitspflicht: Nach der Lehre wurde Gerofke zu einem Arbeitsjahr bei Bauern im Harz verpflichtet und musste dann noch, auch im Harz, ein Jahr Kriegsdienst leisten in einer Fabrik, die Panzergranaten herstellte. Sie habe die Zünder überprüfen müssen. „Anschließend konnte ich immer noch nicht tun, was ich wollte: ich bekam einen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht.“
Blitzmädel: Mehr als eine halbe Million Frauen wurden als Wehrmachtshelferinnen während des Kriegs eingesetzt. „Blitzmädel“ wurden sie genannt. Etwa die Hälfte hatte sich freiwillig gemeldet, die anderen wurden, wie Gerofke, zwangsverpflichtet. Sie kam als Stabshelferin zu einer Flak-Einheit nach Bad Zwischenahn.
Tagsüber war sie Schreibkraft, nachts wurde sie oft zur Flugabwehr eingesetzt. „Funkmessgeräte orteten die Einflüge der Engländer, das bekamen wir auf unsere Kopfhörer, und dann mussten wir auf einer Glasscheibe aufmalen, von wo nach wo die fliegen. Und zwar spiegelverkehrt, damit die Offiziere das auf der anderen Seite richtig sehen konnten.“
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Widerständig bleiben: Wichtig ist ihr zu erwähnen, wie sie versucht hat, den Hitler-Gruß zu vermeiden. Bei Umzügen und Aufmärschen der NSDAP, „die wurden ja immer mit großem Trara angekündigt“, lief sie weg oder versteckte sich in Geschäften. In der Schule allerdings blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzumachen. Und ganz unvermittelt kommt sie auf eine Tante zu sprechen, eine Schwester ihres Vaters. „Die hat bei ihrer Abifeier einen epileptischen Anfall bekommen und danach noch weitere.“ Sie kam in ärztliche Behandlung und starb. Frau Gerofke ist sich sicher: „Sie ist ermordet worden!“
Dresden: Ihre Einheit war verlegt worden, so dass sie im Februar 1945 in Dresden war – als die Stadt bombardiert wurde. „Als wir aus unserer Baracke in den Luftschutzbunker mussten, habe ich in den Himmel gesehen, das sah herrlich aus, lauter Sterne. Für mich hat das schön ausgesehen – aber es waren alles Bomben.“ Am nächsten Tag habe sie dann geholfen, verletzte Soldaten zu verbinden und zu versorgen. „Es war schlimm. Man denkt dann gar nicht mehr, man funktioniert nur noch.“
Ihr werdet erschossen: Frau Gerofke kommt spontan darauf zu sprechen, dass sie in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war: „Wir mussten auf einer Wiese übernachten. Die deutschen Soldaten waren alle weg, wir waren nur Mädchen. Den Amerikanern gefiel das – und manchen Mädchen auch“. Die Amis hätten zu ihnen gesagt, dass sie alle erschossen würden, wenn sie zu den Russen kämen. „Als wir dann nach Dresden kamen, war da tatsächlich die Rote Armee. Aber wir bekamen Suppe und belegte Brötchen.“
Kommunismus: Nach dem Krieg lebte sie wieder in Halle, nun in der sowjetisch besetzten Zone. Gleich 1945 tat sie es ihrem Vater gleich und trat in die KPD ein. Sie wurde in der Geschäftsstelle der Partei angestellt, nicht nur als Schreibkraft, wie sie bald feststellte: „Da kam eines Tages ein junger Mann, der war Artist in einem Zirkus. Und der wollte in die Partei eintreten. Aber die haben nicht gleich jeden genommen, und die Genossen waren bei dem Mann skeptisch.“ Sie hätten sie mit dem zusammen in ein Café geschickt, um ihn, nun ja, zu prüfen. Sie lacht. „Ob sie den dann genommen haben, weiß ich nicht.“ Auf die Frage, was denn so gut war an der KPD, folgt längeres Schweigen. „Also,“ sagt sie dann, „meine Familie, unsere Freunde, die waren alle Mitglieder der KPD oder der SPD, aber eben alle Genossen. Ich habe schon als Kind nichts anderes gehört.“ Dann fällt ihr doch noch etwas ein, was sie nicht so gut fand: „Ein Nachbar rechts von uns, der war auch in der KPD, und wenn der Geld bekam, dann soff der immer in der Kneipe.“
Lebenseinstellung: Nicht alle DDR-Bürger waren mit dem Leben in ihrem sozialistischen Land zufrieden und einige gingen lieber in den Westen. „Die haben eben eine andere Einstellung gehabt vom Leben. Dort gab es ja alles, bei uns war Mangelwirtschaft.“ Das sei so gewesen, weil es in der DDR eben allen Menschen einigermaßen gut gehen sollte und nicht nur einer bestimmten Klasse. „Und so war es ja auch, es hat hier ja jeder leben können – wenn es nicht gerade Asoziale waren.“ Auch für den Bau der Mauer hat Frau Gerofke Verständnis: „Wir wollten unseren Staat aufbauen, unseren sozialistischen Staat. Und wenn dann alle Fachleute abhauen, finde ich das unfair.“ Zur Geschichte der DDR gehört auch das Ministerium für Staatssicherheit, und fast wäre Helga Gerofke dort gelandet: „Ehrlich gesagt, mich hatten sie angefragt, aber die Partei hat mich nicht gelassen, die wollte mich behalten.“ Sonst wäre sie gegangen, als Schreibkraft, vermutet sie.
Wiedervereinigung: 1989 ging die Geschichte der DDR zu Ende. Darauf gefreut habe sie sich nicht. „Nein, das nicht, aber ich habe es für notwendig angesehen, dass es so kommt, heute oder morgen. Ich war mit der DDR zufrieden, aber ich bin jetzt auch zufrieden.“
Herzensgüte: Auf die Frage, wie man so alt wird und fit bleibt dabei, zuckt Gerofke mit den Schultern. Vielleicht könnte es daran liegen, dass sie jeden Morgen kalt dusche, jeden Tag, schon immer, sommers wie winters. Vielleicht liege es auch an ihrer Harmoniebedürftigkeit. Streit gehe sie aus dem Weg. Nur als Baby mag sie einen anderen Eindruck erweckt haben: „‚Schrei-Helga‘ haben sie zu mir gesagt. Heute sagen die Nachbarn: „Sie ist ein herzensguter Mensch.“
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