Der Hausbesuch: Die Sonne hielt ihn vom Springen ab
Seine Mutter war jüdisch, der Stiefvater SS-Soldat – was er nicht so ungewöhnlich findet. Zu Besuch bei dem Dichter Rainer René Mueller in Heidelberg.
Es gibt Biografien von Nachkriegsgeborenen, in denen verdichtet sich die ganze schreckliche deutsche Geschichte. Und Rainer René Mueller hat so eine.
Draußen: Eine Wohnsiedlung mitten in Heidelberg. Gesichtslose Häuser in Weiß. Vieles ist versiegelt, ein paar Vorgärten gibt es. Auf einem Balkon im Erdgeschoss steht Rainer René Mueller, ein gebrechlicher Mann mit Kippa. Er gießt seine Blumen. Eine junge Frau läuft mit ihrem Kind vorbei. „Heute habe ich leider keine Süßigkeiten“, sagt er zu den beiden.
Drinnen: Meterhohe Büchertürme stehen in der kleinen Wohnung, Ein siebenarmiger Leuchter, Nippes und Bilder. Eines von Leonard Cohen. Auf dem vollgestellten Tisch ein Bild mit einem kleinen Kind, aus einer Zigarettenwerbung. Daneben liegt Asthmaspray. Und eine Beatmungsmaschine.
Der Nachname: Mueller wird eigentlich mit „ü“ geschrieben. Aber das möchte der jüdische Dichter nicht. Er begründet das so: „Der Mann, von dem ich dachte, er sei mein Vater, war nicht mein Vater.“ Dieser falsche Vater war ein Müller mit „ü“ und ein Nazi, der mit einer Jüdin verheiratet war. „Das ist keine sonderlich ungewöhnliche Geschichte“, sagt Mueller. „Selten zwar, aber es gibt sie schon hin und wieder.“
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Mörder: Er zeigt ein Foto in einem kleinen Buch. Darauf ist ein SS-Soldat, der einen alten Juden erschießt. Es ist bei einem NS-Massaker in der Ukraine aufgenommen worden. „Das ist mein Vater“, sagt er. „Ein Tyrann, immer korrekt, hochintelligent.“
Jüdische Wurzeln: Mueller ist 1949 in Würzburg geboren, als der Mann seiner Mutter noch in Kriegsgefangenschaft war. Seine Mutter, eine jüdische Fotografin, ist der Deportierung wegen eines Fehlers bei den Behörden entgangen. Ihre jüdischen Wurzeln waren nur der Familie bekannt, seinem Stiefvater allerdings auch. „Freilich wusste der das.“ Seine Mutter hatte eine Liaison mit einem Kollegen, Muellers leiblichem Vater. Karlos Humbke hieß er; Jahre später sei er in Caracas, Venezuela als Architekturfotograf erfolgreich geworden. 1951 aber sei sein Stiefvater, Franz Müller, aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen.
Kindheitstrauma: „Das muss für ihn gewesen sein wie in einer Soap-Opera. Jetzt kommt der Mann aus der Gefangenschaft, der so viel für Führer und Reich gemacht hat, und jetzt hat der so ein Kuckuckskind da. Aber er war immer so ein Genauer, so ein akkurater Bleistiftspitzer.“ Das habe er ihm, dem fremden Kind, auf grausame Weise klargemacht.
Mit Kohle anzünden: „Hätte ich dich erschlagen sollen? Oder hätte ich dich sollen mit Kohle ausstopfen und anzünden? So hab ich dich halt gelassen.“ Das habe sein Stiefvater ihm mal geantwortet, auf die Frage wie es war, als er aus der Gefangenschaft kam. In der Schule habe sich sein Stiefvater, der Nazi, geweigert, etwas für ihn zu unterschreiben. Verbale Brutalität, Herabwürdigung, Beschimpfungen hätten seine Kindheit mitgeprägt.
Empfindsamkeit: Mueller beschreibt sich als zartes Kind, aufmerksam, sensibel, „ich habe so viel wahrgenommen“. Dabei könne er sich nicht erinnern, mal in den Arm genommen oder an der Hand geführt worden zu sein. „Nichts, gar nichts. Da gibt es keine Erinnerung.“ Die Gedichte, die er schreibt, werden häufig mit denen von Paul Celan verglichen, „das hat mal einer geschrieben, und alle anderen haben abgeguckt“.
Bücher: Muellers Großmutter hatte großen Einfluss auf sein Leben. Sie kommt – wie Celan – aus Czernowitz. Das ist in der heutigen Ukraine. Sie hat dafür gesorgt, dass er schon ganz früh Bücher bekam. Bücher zwar, die er nicht begreifen konnte mit seinen 8, 9 oder 10 Jahren; Schopenhauer, fünf Bände Wilhelm Hauff, zwei Bände Scholochow, „es war eine Welt jenseits dessen, was mir sonst zugänglich war“.
Lesen: Die Großmutter sagte immer: „Bub, du musst lesen, lesen, lesen, dass du wirst a beriehmter Mann.“ All die Qualen hinter ihr, alle Zerstörung aus dem Krieg – ihr Mann wurde bei einem Transport aus dem Osten von tschechischen Soldaten totgeprügelt – so was prägt. Alle Resthoffnung hätte sie auf „ihr goldenes Rainerle“ übertragen.
Leben retten: Doch Muellers Seele war selbst schon eine zerrüttete. Die Schikanen des Stiefvaters, die Wirrungen der Nachkriegszeit. Und dann gibt es noch eine Geschichte aus seinem Kindergarten. „Das kann man sich nicht vorstellen, weil es so atypisch ist.“ Er hat eine klare, helle Stimme. Da habe ihn eine Kindergärtnerin missbraucht. Er war fünf Jahre alt. Weiter darüber sprechen möchte er nicht. „Lasse mer’s“, sagt er, „ich glaube, die Großmutter mit ihren Büchern, die hat dem kleinen Rainerle das Leben gerettet.“
Leben nehmen: Mueller wollte sich bereits mit 12 Jahren das Leben nehmen. Er hatte den Grabstein mit Inschrift schon entworfen. Heute ist Mueller um einige solcher Erfahrungen reicher. Er erzählt von einer: Irgendwann während seiner Studienzeit stand er auf dem Dach des Hochhauses, in dem er wohnte. „Und dann steh ich da und weiß nichts. Und dann ging über den Bergen die Sonne auf. Strahlte so ganz früh, ganz ruhig am Morgen.“ Dann habe er einen Schritt zurückgemacht von der Kante. „Du siehst, ich bin ja noch da.“
Studium: Mueller studierte Theologie, Germanistik, Französisch, Philosophie, Kunstgeschichte und leitete später eine öffentliche Galerie und ein Museum, kuratierte Ausstellungen, stellte eine eigene Kunstsammlung zusammen, schrieb Essays und Aufsätze. Während des Studiums arbeitete er für die Post und auf dem Bau. Und um seine Depressionen in den Griff zu bekommen, reiste er nach Tunesien. „Die Erfahrung dieser vereinfachten Lebensform, die Radikalität des Lebens, die absolute Purheit, Oasenerfahrung, Wüstenerfahrung, Steinwüste, Kargheit, Sonne, Sonne, Sonne, lange Rede, kurzer Sinn: Ich bin geheilt zurückgekommen.“
Literaturbetrieb: Mit dieser Prägung im Rücken schrieb er seine Gedichte. Die literarische Arbeit habe ihm auch geholfen zu überleben, wobei er immer vermieden habe, von dieser Arbeit zu sprechen, geschweige denn hatte er die Vorstellung, damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. „Ich wollte mich doch niemandem anbiedern. Zum Beispiel mich auf ein Stipendium bewerben war mir nie nah.“ Überhaupt sei ihm der sogenannte literarische Betrieb immer unangenehm gewesen.
Streiten: Jeder Pups sei mittlerweile öffentlich, sodass fast überall gestritten werde. „Nicht, dass es nicht wichtig wäre, sich zu streiten, aber die Form, in der das gegenwärtig stattfindet, ist mir zuwider.“
Humor: Mueller sagt, er sei fast nicht enttäuscht. Er begegnet der Welt mit bissigem Spott, mit Ironie und wenn die Dinge ihm über den Kopf hinauswachsen, auch mit Ignoranz. „Dann übersehe ich das einfach.“ Er kokettiert ein wenig mit jüdischen Klischees und lacht bitter über den gegenwärtigen Antisemitismus. All seine Verzweiflung tarnt er mit Humor. Die glücklichen Zeiten in seinem Leben waren nie von langer Dauer. Aus den Erfahrungen jener Zeit sind Gedichte entstanden, eingegangen in den kleinen Band „Poèmes / Poetra“. Da gibt es beispielsweise die „Sybilleana“, oder die „Ruth-Gedichte“. Zu Ruth erzählt er die Geschichte.
Amour fou: Anfang der 80er Jahre, da sei das geschehen. Er könne nicht erklären, was war. Er habe diese junge Frau, Ruth, gesehen und von diesem Augenblick sei nichts mehr gewesen wie vorher. Weil es noch eine andere Frau in seinem Leben gab, hatten sie sich heimlich getroffen. In Berlin, in Bremen und anderswo, wo es gerade möglich war. „Es war kein Halten, unglaublich“, so was habe er nie wieder erlebt. „In jeder Faser, ganz, hingebungsvoll, offen, weltvergessen“, solche Adjektive wirft er ein. „Von der körperlichen Schönheit gar nicht zu sprechen!“ Diese Zeit hat er auch in dem kleinen Band „Gesammelte Gedichte aus 30 Jahren“ beschrieben. „Das war die Erfahrung von purem Glück, jenseits aller Grenzen, für eine kurze Zeit.“ Dann war Ruth so schwer krank geworden, psychisch, und Mueller hatte sie noch besucht, sie aber nie wieder erreichen können.
Weltende: „Ich bin müde“, sagt er heute. Mueller ist schwer von COPD geplagt. Und doch: Kürzlich erschien ein kommentierter Gedichtband mit seinen Werken. Er bekommt positive Resonanz; wird besprochen. Aber ihm fehlt die Kraft, darauf noch angemessen zu reagieren. „Was soll denn jetzt noch kommen?“, fragt er leise hustend.
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