Der Hausbesuch: Im Haus der Kutscherin
Wie mütterlich kann Feminismus sein? Irene Stoehr hat ihr Leben der Frauenbewegung gewidmet und eckt an, wenn es denn sein muss.
Manche Menschen sind von Überlegungen fasziniert, die, wenn sie sie aussprechen, großen Widerspruch hervorrufen. Irene Stoehr hat das erlebt. Zu Besuch bei einer widerspenstigen Denkerin.
Draußen: Ein verwilderter Garten in Berlin mit hohen Bäumen, Sträuchern und Komposthaufen. Im Sommer blühen Wildblumen, im Winter verstecken sich die Insekten im vertrockneten Gestrüpp. Das Haupthaus, eine Villa von 1900, wirkt angenehm unrenoviert.
Drinnen: Von der Haustür geht es direkt in die Küche und von dort in den Wohnraum mit Regalen voller Bücher, mit Bildern, Sofa und Klavier. Durch zwei türgroße Fenster dringt Licht: Irene Stoehr bewohnt ein umgebautes Kutscherhaus im Garten einer Hausgemeinschaft.
Bewegung: Beim Teemachen fällt Irene Stoehr eine Tasse auf den Boden. Sie hat gerade nur eine Hand zur Verfügung. Die linke steckt in einem Verband. Kürzlich nahm ihr – sie saß auf dem Fahrrad – ein rasender Krankenwagen so die Vorfahrt, dass sie stürzte. Zum Glück war sie ohnehin auf dem Weg zum Orthopäden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Papiere: Irene Stoehr setzt sich an ihren Esstisch und schiebt Papiere zur Seite. Sie möchte ihr neues Buch über die Frauenbewegung in den 1950er Jahren fertig machen. Das war die Zeit, in der viele Frauen, die im Krieg alles alleine machten und ab Kriegsende Trümmer wegräumen mussten, wieder auf Kinder, Küche, Kirche gepolt wurden. „So zumindest die Saga“, meint Stoehr. Wenn aber von Frauenbewegung in der Nachkriegszeit die Rede ist, denken viele, dass es da keine Frauenrechtlerinnen gab. „Oder kennen Sie eine?“, fragt sie und zählt, ohne eine Antwort abzuwarten, auf: „Marie Elisabeth Lüders, Freda Wuesthoff, Gabriele Strecker.“
Ein Durcheinander: Stoehrs Lebensthema ist die Geschichte der Frauenbewegung – vom Kaiserreich bis heute. „Mich faszinieren vor allem die Widersprüche.“ An welche sie denn da denke? Gerade fallen ihr die der Frauen aus den 50er Jahren ein. „Damals, im Kalten Krieg, ging Antikommunismus und Frauenrechtsbewegung zusammen“, sagt Stoehr. „Und oppositionelle, also linke Frauengruppen setzten in der Zeit wiederum auch auf Mütterlichkeit und machten damit Politik. Friedenspolitik.“ Das sei von der nächsten Feministinnengeneration ab den 70er Jahren, zu der Stoehr zählt, oft nicht verstanden worden.
Erstaunen: Stoehr war, sagt sie, selbst überrascht, dass es in den 50er Jahren frauenpolitisch engagierte Frauen gab. Ihre Mutter war ihr dabei kein Vorbild. Eher ihr Vater, der war Journalist, kannte Frauen, die aus dem Privaten ausgebrochen waren, lud sie mitunter ein.
Großstadt: Irene Stoehr ist Berlinerin. Nicht gebürtig, aber mit vier Jahren kam sie 1945 in die kaputte Hauptstadt; sie war mit Mutter, Großmutter und Schwester aus Niederschlesien geflohen. „Die Flucht muss gruselig gewesen sein. Zu Fuß. Mit Leiterwagen. Mit Vergewaltigungen.“ Erinnerungen daran hat sie kaum. In Berlin wohnte ihre Familie im nicht so kaputten Zehlendorf, „da war die Welt dann relativ heil“.
Bildung: Nach dem Abitur studierte sie Soziologie an der Freien Universität in Berlin. Sie interessiert sich für offenere Schulformen und forscht dazu. Anfang der 1970er Jahre wird sie Professorin an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Hildesheim. Alles sieht nach gradliniger Biografie aus. Verheiratet war sie auch. In Hildesheim aber entstehen in der Zeit viele feministische Frauengruppen, erzählt sie, „und ich war nicht unbeteiligt daran“. Auch privat verschiebt sich der Fokus. Sie verliebt sich in eine Frau.
Inhalte statt Karriere: 1977 tauscht sie ihre Hochschullehrerinnenposition in Hildesheim gegen eine befristete Assistentinnenstelle für „Frauenarbeit und Frauenbewegung“ am Otto-Suhr-Institut, „dem Osi“ der FU. In Hildesheim habe sie nur gelehrt, sie wollte aber forschen. Ein weiterer Grund für den Wechsel: die Liebe. „Fürs Lesbische hatte man in Hildesheim noch nicht so viel Toleranz wie in Berlin.“ Sie und ihre Freundin waren aus einer edlen Weinstube rausgeschmissen worden, als sie sich küssten.
Forschen und Denken: In Berlin gehört sie zur Gruppe, die die erste Frauensommeruni, 1976 war die, vorbereitet. 5.000 Frauen kamen. „Ein Marktplatz des Denkens, Redens und Debattierens war es, und alle, die sprachen, dachten und debattierten, waren Frauen.“ Das habe man damals gebraucht, dass Frauen unter sich diskutieren, ohne männliches Dominanzgehabe. „Das war Selbstermächtigung und keine Männerfeindlichkeit, was uns immer vorgeworfen wurde.“
Neues machen: Zeitgleich mit der Zeitschrift Emma entstand die feministische Zeitschrift Courage. Die eine von Anfang an hierarchisch auf die Meinung von Alice Schwarzer zugeschnitten, die andere „zumindest vom Anspruch her offen, experimentell, plural und relativ basisdemokratisch“. Zwei Jahre war Stoehr Redaktionsmitglied. Die Courage wurde 1984 eingestellt, der ewige Geldmangel war nicht mehr zu verkraften. Später übernahm Stoehr mit der Courage-Kollegin Eva-Maria Epple die Zeitschrift Frauen und Schule. Umbenannt in Unterschiede, richtete sie sich an „Lehrerinnen und Gelehrte, Mütter und Töchter, Gleich- und Weichenstellerinnen, Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art“, sagt Stoehr.
„Aller Art“ – wie prophetisch. „Aller Art“, das sei cis, trans, bi, queer, inter, weiblich, männlich in einem. „Bloß dass Großmütter nicht genannt wurden, das wurde ziemlich bald moniert.“
Neue Erkenntnis: Bei Vorträgen auf der ersten Frauensommeruni wird Stoehr auf ein Thema gestoßen, das sie fortan nicht mehr loslässt: die Entstehung der unbezahlten Hausarbeit im Kapitalismus. Wie Schuppen von den Augen sei es ihr gefallen, dass die Kleinfamilie mit allen bekannten Folgen der Frauenunterdrückung, „die wir auch bei unseren Müttern erlebt haben“, ein Phänomen ist, „das für die Aufrechterhaltung des von uns so bekämpften Kapitalismus wichtiger ist als die Lohnarbeit der Männer.“ Warum das? „Weil die Arbeit der Frauen nicht bezahlt ist, aber dem Kapital zugute kommt“, antwortet sie.
Stoehr folgerte, dass es in feministischen Diskursen nicht ausreiche, Frauen nur als historische Opfer oder Benachteiligte zu betrachten, sondern dass auch politische Systemfragen gestellt werden müssen.
Nichts indes ist einfach: Denn nicht erst heute ist die Frauenbewegung zersplittert, auch Ende des 19. Jahrhunderts, als der Kapitalismus mit der Industrialisierung richtig Fahrt aufnahm, war die Frauenbewegung in Deutschland in drei Flügel gespalten: in den proletarisch-sozialistischen mit Clara Zetkin, in den radikal-bürgerlichen, Anita Augspurg spielt da eine Rolle, auch Hedwig Dohm, und in den bürgerlich-gemäßigten Flügel, wo Helene Lange wichtig war. „Die würde ich gerne mal reden hören, aber es gibt, so viel ich weiß, keine Aufnahmen von ihr.“
Mainstream: Die Feministinnen der 70er Jahre, also die, aus denen Stoehr kam, fühlten sich dem radikalen Flügel der alten Frauenbewegung verbunden. Denen ging es, wie den Frauen in den 70ern, um eine Politik der Gleichberechtigung auf gesetzlicher Grundlage. Bei ihren Forschungen gerät Stoehr indes der gemäßigte Flügel der alten Frauenbewegung in den Blick. Die wollten eine menschliche Gesellschaft auch auf gleichberechtigter Basis, glaubten aber, dass Frauen andere Kompetenzen haben, um das zu verwirklichen, und brachten den Begriff „Mütterlichkeit“ ins Spiel.
„Mütterlichkeit galt ihnen als Synonym für Menschlichkeit, war also nicht an Mutterschaft gebunden, sondern wurde als ein Potenzial aller Frauen gesehen.“ Stoehr verteidigte damals diesen Ansatz, kam aber nicht gut an.
Streit: Zum fünfzigsten Jahrestag der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1983 hatte sie für die Courage den Artikel „Machtergriffen?“ geschrieben. Sie betonte darin den Unterschied zwischen nationalsozialistisch-rassistischer Gebärpolitik und dem Konzept der „organisierten Mütterlichkeit“ des gemäßigten Flügels der Frauenbewegung jener Zeit. Das indes wurde von Feministinnen in den 70er Jahren als biologistische Argumentation wahrgenommen. Bei der öffentlichen Diskussion des Artikels in den überfüllten Redaktionsräumen ist die Empörung groß.
Irene Stoehr wird als angebliche Vertreterin des NS-Mutterkults in der Luft zerrissen. Da zog sie sich erst einmal zurück und spendierte sich eine Fastenwanderung. „Ich streife sehr gerne allein durch still bewegte Wälder, hab mich aber auch schon oft verirrt.“
Das Alte neu denken: Stoehr forschte weiter, veröffentlichte, lebte mal von Forschungs- oder Honoraraufträgen, mal von Arbeitslosengeld, jetzt auch von Rente. Stoehr sucht in der Geschichte nicht so sehr Vorbildliches, aus dem angeblich gelernt werden kann, sondern Merkwürdigkeiten, schwer Verständliches, Verschrobenes und das, was in der Geschichtsschreibung nicht auftaucht. Stoehr ist eine streitbare Frau. Aber nicht immer könne sie es aushalten, wenn sie mit ihrer Meinung aneckt. „Das denken, was alle denken, will ich allerdings auch nicht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“