Der Hamburger Autor Robert Cohn: "In großen Schritten weitergehen"
Robert Cohns Eltern wurden von den Nazis drangsaliert und sprachen darüber kein Wort zu ihrem Sohn. Trotzdem - oder erst recht - hat sich der in Hamburg lebende Autor eine explizit jüdische Lebensform angeeignet.
taz: Herr Cohn, Sie haben sich mal als Schlemihl bezeichnet. Was ist das?
Robert Cohn: Ein Schlemihl ist einer, der sich durchschlängelt. Einer, der immer irgendwie durchkommt.
Und irgendwann wollten Sie es nicht mehr sein?
Wer Schlemihl ist, wünscht sich stets, keiner mehr zu sein. Man will sich doch nicht immer durchschlängeln. Man will in großen Schritten weitergehen.
Seit wann sind Sie kein Schlemihl mehr?
Seit dem schweren Autounfall meines 21-jährigen Sohnes vor zwei Jahren. Er sitzt seither im Rollstuhl und leidet unter Gedächtnis- und Sprachschwierigkeiten. Er begreift seine Umgebung und seine Situation nur schwer. Wenn es ihm sehr schlecht geht, ist seine Standard-Antwort "Nein!" Was nützt es mir da, Schlemihl zu sein? Ich kann ihn aufheitern, aber darum geht es nicht. Ich muss dafür sorgen, dass er da wieder herausfindet.
Er könnte gesunden?
Ich glaube, man hat immer die Möglichkeiten, die man sich selbst zumisst.
ROBERT ELIMELECH COHN 49, wurde in Bonn geboren und wuchs in Buenos Aires auf. Als er 14 war, zog die Familie nach Paris. In Hamburg lebt er seit etwa 20 Jahren.
Studiert hat er Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, Romanistik.
In Museen hat er - als Archivar und wissenschaftlicher Mitarbeiter - unter anderem über den Alten Orient und die Skythen geforscht.
Als Autor verfasst er französische Gedichte, deutsche Erzählungen und Romane und jiddische Lieder, die er selbst aufführt.
Als Stadtführer wandelt er unter anderem auf jüdischen Spuren in Hamburg-St. Pauli.
Als Redner hält er Vorträge über den Israel und den Nahen Osten.
Das sagen Sie ihm.
Viele Male, jeden Tag.
Was blieb seither von Ihrem früheren Leben?
Nichts - außer dem Schreiben. Ich schreibe, seit es mich gibt. Schon als Kind habe ich geschrieben, als Schüler und Student. In Frankreich, wo ich aufwuchs, schrieb ich französisch. Seit ich hier lebe, deutsch.
Haben Sie über den Unfall Ihres Sohnes geschrieben?
Nach seinem Unfall habe ich pausenlos Gedichte über ihn und an ihn geschrieben: im Bus, im Zug, bei Tag und bei Nacht an seinem Bett.
Wie lange?
Über ein Jahr lang. Bis sich die Gedichte totgelaufen hatten. Irgendwann wollte ich nicht mehr über fallende Blätter, Schlamm und Eisdunst schreiben.
Seither schreiben Sie deutsche Prosa, die an Thomas Bernhards erinnert.
Ja, ich schätze ihn. Und was den Duktus betrifft: Es ist ziemlich schwer, vom Gedicht wegzukommen. Das merkt man meinen Prosa-Texten teils noch an: dass da etwas Gedicht sein will, was aber keins sein soll.
Woran schreiben Sie?
Zurzeit an zwei Romanen gleichzeitig. Einer ist fertig und heißt "Zettel ohne Traum". Der andere, von dem zwei Drittel fertig sind, heißt "Blatt, im Wasser treibend". Er handelt von einer Migrantin, die 1939 in Buenos Aires ankommt, wo auch ich meine halbe Kindheit verbracht habe. Irgendwann entdeckt sie, dass sie ein Schlemihl ist. Das hilft ihr zu überleben und durch ihre Erinnerungen hindurch- und wieder herauszufinden.
Sie sind in Bonn geboren, wuchsen aber in Argentinien auf. Warum?
Weil mein Vater fürs Auswärtige Amt arbeitete und dorthin versetzt wurde.
Ihre Eltern flohen nicht vor den Erinnerungen an die Nazizeit?
Nicht explizit, obwohl meine Familiengeschichte das nahe legen könnte: Mein Vater war während der Nazizeit in den Lagern und meine Mutter versteckt. Als sie sich nach Kriegsende wiederfanden, nahm mein Vater eine Stelle beim Länderrat an, der 1948 als Vorläufer der Bundesregierung gegründet worden war.
Auf Buenos Aires folgte Paris.
Dorthin zogen wir, als ich ungefähr 14 war. Ich habe dort die Schul- und den Beginn meiner Studienzeit verbracht, bevor ich nach Deutschland zog, um mein Studium zu beenden.
Wurden Sie jüdisch erzogen?
Überhaupt nicht. Darüber fiel kein Wort.
Worüber genau?
Über jüdische Religion und Kultur. Jüdischsein meint eine Art des Daseins, die sich auf Erinnerungen bezieht, die Jahrtausende alt sind. All diese Erinnerungen waren in meiner Familie abgeschnitten. Jeder Holocaust-Überlebende geht ja anders um mit seiner Geschichte. Manche sprechen darüber, manche sprechen halb darüber, manche tun es gar nicht. Meine Eltern zählten zu den Letzteren: Sie waren sehr beredt in dem, was sie nicht sagten. Ich bin in unserer Familie der einzige, der anders damit umgeht.
Wie begann das?
Ich habe mal wegen des Namens und verschiedener Nebenbedeutungen von Worten nachgeforscht, die gesagt beziehungsweise nicht gesagt wurden. Im Zuge dieser Recherchen habe ich Geburtsurkunden und andere Dokumente in die Hände bekommen. Mein Vater war auch bis zu einem gewissen Grad bereit, mitzugehen, aber irgendwo war eine Grenze. Da wollte er nicht weitersprechen.
Sie haben sich Ihre jüdische Identität also erarbeitet.
Ich habe keine Ahnung, was jüdische Identität ist.
Nennen wir es Daseinsform.
Einverstanden.
Die lernt man aber schwer aus Dokumenten. Wie wurden Sie jüdisch, ohne es vorgelebt zu bekommen?
Indem alle Satzteile, alle halben Bilder von früher plötzlich zusammen fanden und das Leben erklärten.
Das heißt?
Ich verstand plötzlich, warum bestimmte Dinge in meiner Jugend genau so gewesen waren - und warum wir immer anders sein mussten. Uns hüten mussten vor der Außenwelt. Da war ein Gefühl von Bedrohtheit, das man aber auch nicht loswerden sollte, weil ja eine Bedrohung da war.
Wie meinen Sie das?
Ich spreche von Familienerinnerungen. Erinnerungen über Auslöschung übertragen sich über die Generationen - stärker, als man will.
Sie meinen eine Art ererbtes Gefühl.
Ja - wobei Antisemitismus immer noch sehr real ist. Er kann sich sehr überraschend zeigen. Einmal saß ich zum Beispiel in freundlicher Runde im Lokal und erwähnte, dass ich Krabben meide, weil sie nicht koscher sind. "Koscher" komme aus dem Hebräischen, erklärte ich meiner Gesprächspartnerin - einer Ärztin. Da fragte sie mich, ob auch der Ausdruck "bis zur Vergasung" aus dem Hebräischen komme. Solche Dinge passieren immer wieder.
Sie wollen Ihr Jüdischsein trotzdem nicht verschweigen.
Es ist natürlich eine Option, sich zu verstecken. Aber bringt mich das weiter? Es ist doch ganz natürlich, dass ich über etwas, das mein Leben bewegt, in der entsprechenden Sprache rede. Und warum soll man in der Öffentlichkeit nicht das Wort "koscher" benutzen?
Sie übersetzen unter anderem vom Ladino ins Jiddische. Warum?
Das sind meist Liedertexte, mit denen ich auftrete. Und das Ladino - oder Judenspanische, das die spanischen Juden seit ihrer Vertreibung 1492 in alle Welt mitnahmen - ist eine sehr klare, poetische Sprache. Sie ist das Pendant zum Jiddisch der mittel- und osteuropäischen Juden. Und solche Übersetzungen und Nachdichtungen mache ich gern.
Woher können Sie Jiddisch und Ladino?
Ich befasse mich gern mit Sprachen - und wenn man Spanisch spricht, versteht man auch Ladino. Und Jiddisch zu lernen, fiel mir nicht schwer, weil meine Eltern etliche jiddische Ausdrücke benutzten.
Befehden jiddisch- und ladino-sprachige Juden einander?
Im frisch gegründeten Israel gab es diese beiden Fraktionen. Inzwischen hat sich das gelegt, aber manchmal wird es wieder ausgegraben - sei es aus Selbstironie, sei es aus Streitlust.
Worum dreht sich der Streit?
Um die Frage, wer der echtere Jude sei. Diese Debatte ist uralt, und es gibt sie heute noch - zwischen Orthodoxen und Liberalen zum Beispiel.
Praktizieren Sie Ihr Judentum?
Soweit es geht. Ich halte zum Beispiel den Shabbat ein, der vom freitäglichen bis zum samstäglichen Sonnenuntergang dauert. Da werden in der Dämmerung zwei Kerzen angezündet und eine Broche - ein Segensspruch - gesungen. Das sind uralte Melodien und sehr alte, teils aus dem Mittelalter stammende poetische Texte, von denen einige aus dem Talmud stammen.
Welches ist die Grundidee des Shabbat?
Der Shabbat ist eine Insel im Fluss der Zeit. Er ist eine Insel der Ruhe, auf der alles stillsteht. Man kann sich darauf setzen, und da ist einfach nur Ruhe.
Heißt das, man sitzt am Shabbat regungslos da?
Nein, aber man hat keine Pflichten. Ich lese viel, besuche Freunde, natürlich meinen Sohn …
Abgesehen von diesen Ritualen: Sind Sie religiös?
Ja - obwohl ich auch Zyniker bin. Oder eben ein Schlemihl.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Vorschläge für bessere Schulen
Mehr Führerschein wagen