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Der Fortsetzungsroman: Kapitel 2Die Spargelgeschichte

Wie gelingt es, mitten in der Wirtschaftskrise eine Henkersmahlzeit auf die Bühne zu zaubern?

Mütterchen im Jahr 1935. Bild: Archiv Lea Streisand

Mütterchens Sofa hatte weiße und rote Streifen. Von oben nach unten. Eine 50er-Jahre-Schlafcouch zum Ausklappen, auf der sie schlief, wenn wir Enkel bei ihr übernachteten. Wir wurden ins Schlafzimmer verfrachtet, damit wir morgens nicht das Wohnzimmer blockierten. Die Wohnung hatte nur zwei Zimmer, Küche, Bad. Erich-Kurz-Str. 7, Lichtenberg, 12. Stock, alle Fenster nach Westen. Manchmal standen meine großen Cousins dort, guckten durch den Feldstecher und behaupteten, irgendwas zu sehen, was total verboten sei. Ich konnte mir nie erklären, was an ein paar bunten Lichtern verboten sein sollte. Ich war acht oder neun und ließ mir lieber von Mütterchen Geschichten erzählen. Und Eierkuchen backen. Mütterchen machte die besten Eierkuchen der Welt. Mit ohne Milch, aber mit steifgeschlagenem Eischnee untergehoben unter den Teig. Und in Butter gebraten. Nicht mit Öl. Und immer ein bisschen anbrennen lassen. Das war wichtig, passierte aber von ganz allein, weil Mütterchen einen Elektroherd hatte, „kannste ’ne halbe Stunde nachm Ausschalten immer nochn Ochsen druff braten“, sagte sie. Jedenfalls war es gut, dass die Fenster so groß waren. Konnte man besser lüften.

„Omi, erzähl eine Geschichte!“, bettelte ich nach dem dritten Eierkuchen. Mehr konnte kein Mensch auf einmal essen. „Was denn für ’ne Geschichte?“, fragte Mütterchen. „Weiß nich“, sagte ich, „erzähl was von Theater. Die Spargelgeschichte.“ Mütterchen lachte. Und erzählte:

„Bei der Wanderbühne in Frankfurt am Main, Anfang der Dreißiger, da haben wir Dreigroschenoper gespielt. Zu der Zeit war Brecht noch nicht verboten.“ Noch was Verbotenes, denke ich und überlege, was dieser Brecht mit den blinkenden Lichtern im Westen zu tun haben könnte. Bestimmt wieder irgendwas mit Ins-Bett-gehen-Müssen. Bei den meisten Sachen, die wirklich spannend sind, schicken sie einen schlafen. „Ich hasse schlafen!“, hab ich gestern gebrüllt, als Mütterchen mich zum Mittagsschlaf hinlegen wollte. Sie hat geprustet, sich mit dem Finger an die Stirn getippt und ist im Schlafzimmer verschwunden. Da saß ich dann, todmüde, im Wohnzimmer auf dem Sofa mit den weißen und roten Streifen und durfte nicht einschlafen. Ich bin Mütterchen sehr dankbar, dass sie nichts gesagt hat, als es dann doch passiert ist.

„Welche Rolle hast du gespielt in der Oper, Omi?“, frage ich. „In dem Fall war ick die erste Hure“, sagt Mütterchen, „ich war ja noch sehr jung und unerfahren, deshalb nur ’ne Nebenrolle. Jeden Abend war ausverkauft. Du weißt ja, dass der Mackie Messer am Ende zum Tode verurteilt wird.“ Ich erschaudere ein bisschen und nicke. Ich weiß schon, dass im Theater nicht wirklich jemand stirbt, sie tun nur so. „Warum wird er zum Tode verurteilt, Oma?“ – „Weil man ihn aus dem Weg haben will.“ Ich überlege. Meine Cousins haben mich mal auf den Kachelofen gesetzt, weil sie mich aus dem Weg haben wollten. Das war fies. Ich saß da oben und protestierte und die ganze Familie stand drum herum und amüsierte sich. Blöd eben, wenn man die Kleinste ist. Aber immer noch besser, als zum Tode verurteilt zu werden, wahrscheinlich.

„Und was kriegt man, wenn man zum Tode verurteilt worden ist?“, fragt Mütterchen. „Spargel!“, jubele ich und rutsche auf dem Sofa rum. Jetzt kommt nämlich die lustige Stelle.

„Eine Henkersmahlzeit“, sagt Mütterchen. Geschichten wollen ordentlich erzählt werden, der Reihe nach. Sie fährt fort: „Und Mackie Messer wünscht sich Spargel zu essen.“ Warum auch immer, denke ich. Von mir aus könnte er sich auch tote Oma bestellen. Aber dann wäre die Geschichte nicht so komisch. Ich würde Eierkuchen nehmen.

Lea Streisand

Berliner Autorin und Schriftstellerin, liest seit 2003 auf Lesebühnen und Poetry-Slams in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihr neuestes Buch heißt "Berlin ist eine Dorfkneipe".

„Nun hatte die Wanderbühne aber nicht viel Geld“, erzählt Mütterchen. „War ja immer noch Wirtschaftskrise. Wir konnten unmöglich jeden Abend frischen Spargel kochen für die Vorstellung. Aufheben konnte man den gekochten Spargel auch nicht lange. Also hatte uns Egon, der Requisiteur, ein netter Junge, der hatte uns Spargel aus Holz geschnitzt. Täuschend echt sahen die aus. Weiß und grün angemalt, bildschön! Und dann kommt die Stelle im Stück, wo Tiger-Brown, der Polizeichef, Macheath den Spargel serviert. Den Brown hat Ludwig gespielt.“ – „Der Hindentant!“ – „Genau, mein Mädchen, der Intendant. Und als der eben erklärt hat, wie besonders zart der Spargel sei, wie er auf der Zunge zergehen würde wie Butter, da macht Willi, der den Macheath spielt, bei dem Song, wo Macheath jedermann Abbitte leistet, eine ausladende Geste und haut dabei mit der Hand gegen den Tisch, auf dem der Spargelteller steht. Und der ’butterweiche Spargel‘ rollt vom Teller, fällt vom Tisch und hopst mit lautem Gepolter über den Dielenboden. Tack, tack, tack! Wir sind hinter der Bühne alle zu Salzsäulen erstarrt. Ludwig musste sich wegdrehen vor Lachen. Und Willi sagte nur: „Scheint mir aber doch etwas holzig zu sein, der Spargel!“

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