: Der Fluch der quten Tat Von Joachim Schulz
Ich bin nicht bei den Pfadfindern gewesen und schlafe deshalb bestens, auch wenn ich mal einen Tag lang keine gute Tat vollbringe. Nichtsdestoweniger wohnt in mir so eine Art Lenor-Gewissen für schlecht erzogene Kinder, das mächtig Krach zu schlagen beginnt, wenn ein Ömchen mehrere Koffer durch einen Eisenbahnwaggon zu bugsieren versucht.
Los! Hilf ihr! faucht das Gewissen, weil es vermutlich darauf hofft, daß ich für eine solche humanitäre Hilfsaktion einen Bonuspunkt in der göttlichen Buchhaltungskladde gutgeschrieben kriege, den ich später einmal gegen einen besonders freundlichen Zivi eintauschen kann, wenn ich mir die Zehennägel nicht mehr selber zu schneiden vermag. Infolgedessen werfe ich meinen Kavaliersumhang über und eile ihr als Retter in der Not entgegen. Das Dumme freilich ist, daß ältere Damen jeden, der ihnen die Taschen nicht in räuberischer Absicht entreißt, sondern sie ins Gepäcknetz wuchtet, ohne Umschweife in die Familie aufnehmen. So wählt sie denn nicht nur den Sitzplatz neben mir – sie fühlt sich auch dazu ermuntert, mich über den Anlaß ihrer Reise aufzuklären (Besuch bei den Enkeln in Elmshorn) und mich so lange mit den Spitzenleistungen zu konfrontieren, die ihre kleinen Lieblinge in der Disziplin „Kindermund“ erbringen, bis über mir eine Denkblase aufsteigt, in welcher sich zwei starke Männerhände um die Gurgel einer verdutzten Großmama legen.
Daß ich trotzdem eine Atempause bekomme, liegt daran, daß das Ömchen „mal wohin“ entschwinden muß. Keine fünf Minuten später aber kommt es um so dicker, da meine völlig erschöpfte Reisegefährtin vom Schaffner an ihren Platz zurückgebracht wird und dieser mir nun erklärt, daß nur gewissenlose Gesellen ihre alten gehbehinderten Tanten allein durch einen überfüllten Zug irren lassen. „Hab' ihm erzählt, daß Sie mein Neffe sind“, kichert sie, nachdem sie ihm zwei Mark („Für eine Flasche Bier!“) in die Hand gedrückt hat. Sodann erkundigt sie sich, ob sie mein Gesicht nicht aus dem Fernsehen kenne. „Schon möglich“, sage ich, weil ich der Meinung bin, daß ich mir einen Spaß auf ihre Kosten verdient habe: „lch bin der Honorarkonsul der Republik Ghana.“ „Ah!“ juchzt sie begeistert. „Starnberg!“ „Nicht Starnberg!“ rufe ich in ihr verstaubtes Gehörorgan. „Ghana! In Afrika!“ Darauf sie: „Aber Sie sind doch gar kein Neger?!“ Bevor ich sie indessen in die Geheimnisse des Honorarkonsulberufes einweihen kann, nutzt sie den kurzen Abstecher in die weite Welt, um mir zu erzählen, daß sie und ihr Mann ja früher auch sehr viel herumgekommen seien. So werde ich zum Ohrenzeugen von Wanderungen in Südtirol und Butterfahrten nach Helgoland, und weil sie mich schließlich erfolgreich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gedrängelt hat, eröffne ich ihr, daß ich an der nächsten Station leider aussteigen müsse. Natürlich will ich mir in Wahrheit nur einen neuen Platz suchen gehen, aber weil Ömchen es sich nicht nehmen läßt, mich bis zur Waggontür zu bringen, stehe ich am Ende tatsächlich auf einem gottverlassenen Bahnsteig, sehe zu, wie sie mir noch lange winkt, und überlege, ob sie beim Mitropa-Kellner wohl jetzt ein Pikkolöchen bestellt, weil sie der jungen Generation mal wieder so richtig eins ausgewischt hat.
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