Der Fall Duogynon: Wer sich nicht einschüchtern ließ
Der Pharmakonzern Schering versuchte jahrelang, Kritiker wie den Arzt Ulrich Moebius mundtot zu machen. Dies belegen Archiv-Dokumente.
Duogynon, das war ein Hormonpräparat, das Schering 1950 auf den Markt gebracht hatte und bis 1981 unter wechselnden Namen in Europa verkaufte, gegen Menstruationsbeschwerden und als Schwangerschaftstest. Duogynon, das war das Medikament, das Ulrich Moebius von 1963 bis 1966 als Verkaufsagent für Schering in Irland, Österreich und der Schweiz Frauenärzten empfahl. Duogynon steht seit spätestens 1967 im Verdacht, verantwortlich zu sein für Missbildungen bei Ungeborenen.
„Für die Firma war Duogynon ein money spinner, eine Innovation, nur ein, zwei Dragees zum Schlucken, unkomplizierter zu handhaben als alle bisherigen Schwangerschaftstests damals“, sagt Moebius. „Aber eben eine Hormonbombe, ausgerechnet für Schwangere, völlig idiotisch“, seine Stimme bebt, das alles ist lange her und regt ihn doch noch auf. „Ein Risiko“, er ruft es ins Telefon, „für die Kinder im Mutterleib.“
Der knallharte Nachweis blieb aus
Ulrich Moebius hat sich mit Schering später, in den 1970er und 1980er Jahren, da arbeitete er schon lange als Arzt in einem Krankenhaus, angelegt deswegen, mit Publikationen im pharmakritischen arznei-telegramm. Nur den einen knallharten Nachweis für seinen Verdacht, dass der Hormoncocktail aus Gestagenen und Östrogenen zu Fehlbildungen an Herz, Gliedmaßen, Genitalien und inneren Organen bei tausenden Ungeborenen geführt haben könnte, diesen Nachweis, es wurmt ihn bis heute, „konnten wir rückblickend nicht erbringen“.
Auch weil klinische Arzneimittelstudien an Menschen oder Menschenaffen fehlten – sie waren damals gesetzlich gar nicht vorgeschrieben. Auch weil Schering mit Informationen geizte und besorgte Nachfragen von Wissenschaftlern und Ärzten abbügelte.
Ulrich Moebius, Arzt
Bis heute bestreitet die Bayer AG, die Schering 2006 übernahm, jeden Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikaments und den Schädigungen. Moebius sagt: „Bei Schering ahnten sie die Risiken schon in den 1960ern, aber sie haben sie negiert. Es war eine brutale Zeit.“ Er hält inne. „Gibt es denn etwas Neues“, fragt er dann.
Schon.
Seit 2015 gestattet das Landesarchiv Berlin Deutschen und Briten, die in den 1960er und 1970er Jahren mit schweren Missbildungen geboren wurden, den Zugang zu bislang geschützten Akten. Erstmals dürfen mutmaßlich Duogynon-Geschädigte Einsicht nehmen in vertrauliche Dokumente.
Das Medikament: 1950 bringt der Berliner Pharmakonzern Schering Duogynon als hormonellen Schwangerschaftstest zum Einnehmen und Spritzen auf den Markt.
Der Verdacht: Duogynon könnte verantwortlich sein für Fehlbildungen bei Ungeborenen.
Die Aufarbeitung: In Großbritannien gibt es seit 2015 einen Untersuchungsausschuss zum Thema Duogynon. In Berlin gestattet das Landesarchiv Betroffenen seit 2015, Schering-interne Korrespondenz sowie bislang geheime Tierversuchsprotokolle aus den 1960er und 1970er Jahren einzusehen. Die komplette taz-Recherche zu dem Fall lesen Sie hier (PDF).
Diese wurden Ende der 1970er Jahre von der Berliner Staatsanwaltschaft in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen Schering sichergestellt: Briefwechsel der Schering-Rechtsabteilung aus den 1960er und 1970er Jahren mit Ärzten. Mit Wissenschaftlern, spezialisiert auf die Erforschung von Ursachen embryonaler Fehlbildungen. Sowie Strategieüberlegungen des Konzerns zu Umsätzen – und zum Umgang mit Kritikern und Presse.
Konzern blieb untätig
Aus den Unterlagen, die der taz vorliegen, geht hervor, dass Schering um das Risiko einer fruchtschädigenden Wirkung von Duogynon seit Mitte der 1960er Jahre wusste – auch aufgrund firmeneigener Versuche an Nagetieren.
Leitende Schering-Mitarbeiter diskutieren daraufhin intern die potenziellen Gefahren des Medikaments. Doch anstatt den Verdacht durch aussagekräftigere Untersuchungen an Menschenaffen zu überprüfen, belässt es die Firma bei weiteren Studien an Ratten, Kaninchen und Mäusen, wegen der hohen Kosten und des zeitlichen Aufwands für Affenstudien. Und in der bizarren Hoffnung, eigene wissenschaftliche Untätigkeit könne die externen Kritiker zum Schweigen bringen – und einen Imageschaden von der Firma abwenden.
Vergeblich. 1975 empfiehlt die medizinische Fachzeitschrift Ärztliche Praxis, „vor Progesteron-Östradiol-Medikation Schwangerschaft mit Sicherheit auszuschließen“. Eine alarmierte Mitarbeiterin der Klinischen Forschungsabteilung von Schering schreibt daraufhin an die „Pharma Deutschland Leitung“ der Firma: „Nach Durchsicht dieser schönen Abhandlung können Sie sich sicher vorstellen, daß ich einem Herzinfarkt recht nahe war.“ Beim Chefredakteur des Blattes solle nun auf eine „Richtigstellung“ hingewirkt werden.
Wenige Monate später, erneut sind Zweifel an Duogynon publik geworden, erinnert die Abteilung Medizinisch-Wissenschaftliche Information die Leitung von Pharma Deutschland, es gebe einen „Beschluß der Vertriebsleitung, nur dem Zwang der Behörden zu weichen“. Dieser gelte auch für den Fall, „daß im Herbst eine Publikation erscheinen werde, die die oralen Schwangerschaftstests verdammen wird“.
„Er sinnt auf Rache“
Einschüchterung statt Dialog, diese Strategie im Umgang mit der Öffentlichkeit wird Schering über Jahre verfolgen. Ende der 1970er Jahre notiert Schering über Wissenschaftler und in Großbritannien sogar über Parlamentsabgeordnete vertrauliche Beobachtungen für die Akten – getreu dem Motto: Wer nutzt, wer schadet dem Unternehmen?
Auch über Ulrich Moebius, den unbequemen Exmitarbeiter, finden sich Einträge. Obwohl er seine Zweifel an dem Produkt in Fachzeitschriften öffentlich gemacht hatte, blieb das Präparat auf dem Markt. Im August 1978 berichtet daraufhin die Schering-Rechtsabteilung „vertraulich“ an den Schering-Vorstand, „daß Herr Dr. Möbius [. . .] offenbar enttäuscht darüber ist, daß die Duogynon-Entscheidungen nicht in seinem Sinne ergangen sind“. Die Rechtsabteilung befürchtet: „Er sinnt auf Rache.“
„Rache?“ Ulrich Moebius am Telefon, Januar 2016, lacht. 1978, erzählt er, das war die Zeit, als in Großbritannien und Deutschland Mütter geschädigter Kinder sich an Staatsanwaltschaften, Gerichte und die Presse wandten. Als in Deutschland endlich ein ernstzunehmendes Arzneimittelgesetz in Kraft trat. Als auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vor möglichen Schädigungen Ungeborener durch Duogynon warnte. Kurz: 1978 wuchs der Druck auf Schering.
Das Präparat wird umbenannt
Der Hersteller indes nimmt bloß die Empfehlung als Schwangerschaftstest zurück und benennt das Präparat um. Duogynon heißt fortan Cumorit. Erst 1981 wird Schering es ganz vom Markt nehmen. Rechtliche Konsequenzen bleiben aus, weil die Kausalität weiterhin nicht nachweisbar ist.
Derweil verwendet die Firma Energie darauf, eine offene Auseinandersetzung über Duogynon zu unterbinden: „M. E. ist es nun auch für uns an der Zeit, Herrn Dr. Möbius überall dort Schwierigkeiten zu machen, wo dies möglich [. . .] ist“, schreibt die Rechtsabteilung 1978 an den Vorstand. Dieses Ziel dürfe auch mit fragwürdigen Methoden erreicht werden: „M. E. sollten wir [. . .] überlegen, ob wir einen Journalisten finden, den das Thema ‚Herr Dr. Möbius betreibt sein Geschäft mit der Angst‘ interessiert.“
„Mich“, sagt Ulrich Moebius, „wundert das gar nicht. Für die war ich der Feind.“ Bis heute hat sich niemand von der Firma bei ihm entschuldigt. Die Bayer AG als Schering-Rechtsnachfolgerin lässt Fragen der taz zu Durchführung und Erfolg der damaligen Überlegungen, Ulrich Moebius Schwierigkeiten zu machen, unbeantwortet.
Untersuchungsausschuss in Großbritannien
In Großbritannien dagegen beschäftigen die Unterlagen aus dem Landesarchiv Berlin seit dem Herbst 2015 auch das Parlament. Der Gesundheitsausschuss soll rückblickend untersuchen, welche Risiken dem Unternehmen, aber auch den staatlichen Aufsichtsbehörden wann bekannt waren – und wer welche Konsequenzen daraus hätte ziehen müssen. Viele Betroffene hoffen neben der Aufklärung auch auf die Anerkennung von Schuld – wenn schon nicht im juristischen Sinne, dann doch moralisch. Es wäre ein Zeichen, wenn die Firma zugäbe, Fehler gemacht zu haben, auch im Umgang mit der Öffentlichkeit.
Als der Stern Ende 1978 über mögliche Risiken durch Duogynon berichtet, schaltet Schering eine Kanzlei in Köln ein: „Der Vertrieb der (. . .) Stern-Nummer in England soll verhindert werden“, schreiben die Kölner Anwälte ihrer Auftraggeberin im November 1978.
Ähnlich kaltschnäuzig begegnet das Unternehmen besorgten Ärzten. Die meisten bitten um Aufklärung, wie etwa ein Facharzt für Geburtshilfe aus Bayern, der 1978 an Schering nach Berlin schreibt: „Frau [. . .] hat 1967 ein zentral geschädigtes Kind entbunden und nun im Stern gelesen, daß in England Zusammenhänge zwischen Duogynon und solchen Mißbildungen festgestellt wurden. [. . .] Das Kind leidet heute an einer linksseitigen Halbseitenlähmung, einem inneren Wasserkopf und einem Knickfuß.“
Schering antwortet: „Nach den Erfahrungen, die uns die Massenmedien in den letzten Wochen beschert haben, wundern wir uns nicht mehr, wenn Menschen, die ein mißgebildetes Kind aufzuziehen haben, emotional reagieren und für erwiesen halten, was nicht einmal als Hypothese haltbar ist.“
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