Der Fall Caster Semenya: Sport ist nicht gerecht
Caster Semenya kehrt ins Berliner Olympiastadion zurück. Dort begann ihre Leidensgeschichte: Sie gewann den WM-Titel – und ihr Geschlecht wurde in Zweifel gezogen.
Es ist jetzt genau ein Jahr her: Caster Semenya läuft im 800-Meter-Finale der Frauen im Berliner Olympiastadion als Erste ins Ziel und holt sich den Weltmeistertitel. Ein Sieg, der für viele nicht nur überraschend kommt, sondern auch skeptisch beäugt wird. Sie darf nach ihrem Rennen nicht mal ihre Ehrenrunde zu Ende drehen, sondern wird vorher von der Bahn gewinkt und sieht sich plötzlich mit Fragen konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet ist: Was sind Sie denn nun - Mann oder Frau?
Das vermeintlich männliche Aussehen der Südafrikanerin und verschiedene andere Faktoren hatten schon kurz vor dem Finale Stimmen aufkommen lassen, die eine "gender verification" - eine Geschlechtsuntersuchung - forderten. Dem folgte der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) und musste dann überrascht feststellen, dass eine Geschlechtsuntersuchung aufwendiger ist als gedacht. Denn man wollte ein aussagekräftiges, möglichst verlässliches Ergebnis, und das ergibt sich nicht allein durch einen Chromosomentest - es erforderte zusätzlich eine Analyse der Geschlechtsteile, des Hormonstatus und ein psychologisches Gutachten.
Die Untersuchungen zogen sich hin. Lange. Auffallend lang. Die IAAF hatte offenbar die sportpolitische Bedeutung der medizinischen Fragestellung erkannt. Jetzt scheute man sich vor der Entscheidung, die ein so beispielhafter Fall benötigte. Statt einer Woche dauerten die Untersuchungen elf Monate - bis zum 6. Juli 2010, als die IAAF meldete, dass Semenya ab sofort wieder startberechtigt sei. Von der Veröffentlichung der medizinischen Ergebnisse keine Spur - man wolle sie vertraulich behandeln. Na immerhin.
Dass man Semenyas Geschlecht untersuchen müsse, hat sich Leonard Chuene, der Präsident des südafrikanischen Leichtathletik-Verbands (ASA), schon vor der WM gedacht und die Untersuchungen prompt durchgeführt - allerdings ohne Absprache mit dem Weltverband, geschweige denn mit dem Einverständnis der Athletin. Warum auch, die Ergebnisse wollte er sowieso für sich behalten. Semenya hingegen hatte geglaubt, es handele sich um normale Dopingkontrollen. Mit dem medizinischen Bericht traf auch ein Rat vom Verbandsarzt bei Chuene ein: Lassen Sie sie besser nicht bei der WM starten.
Warum er die Ergebnisse für sich behielt, Semenya aber trotzdem starten ließ? "Um die Athletin zu schützen", beteuerte Chuene, nachdem seine Voruntersuchungen aufgeflogen waren. Doch sein eigener Kommunikationschef musste zugeben: "Warum hätten wir sie am Start in Berlin hindern sollen? Unsere Aufgabe war es, mit Medaillen zurückzukommen. Genau das haben wir getan", sagte Phiwe Tsholetsane und bestätigte damit, was dem Verband vorgeworfen wird: dass er auf Medaillen scharf, die seelische Unversehrtheit von Semenya ihm aber egal war. "Und wenn da irgendwo noch andere Casters herumlaufen, werden wir die genauso an den Start gehen lassen", fügte Tsholetsane hinzu.
Peinlich für Leonard Chuene: Erst beteuert er, gänzlich hinter seiner Athletin zu stehen, und wirft dem IAAF wegen der Geschlechtsuntersuchung Rassismus vor. Dann kommt heraus, dass er selbst der Erste war, der eine solche Untersuchung anleierte. Schließlich muss Chuene auf Drängen des südafrikanischen Sportministers Gert Oosthuizen sein Amt als Verbandspräsident aufgeben. Auch Semenyas damaliger Trainer, Wilfred Daniels, tritt zurück und begründet den Schritt mit seinem schlechten Gewissen.
Es ist ein Trümmerfeld entstanden, nicht nur im professionellen Umfeld der Athletin, sondern auch im privaten. Elf Monate Sperre und die weltweite Diskussion über ihr Geschlecht sind hartes Brot für einen jungen Menschen. Trotzdem - oder gerade deswegen - verzichtet Semenya auf eine Schadenersatzklage. "Ich freue mich einfach, wieder laufen zu dürfen", sagt die 19-Jährige.
Das tut sie. Seit der Aufhebung ihrer Sperre ist sie bei zwei Leichtathletik-Meetings in Finnland angetreten. Sie hat beide Rennen gewonnen, ist aber mit 2:04,22 und 2:02,41 Minuten deutlich unter ihrer Bestzeit aus Berlin (1:55,45) geblieben. Doch wird es das letzte Wort in der Gender-Frage gewesen sein? Wie wird "Frauen"- und "Männerkonkurrenz" in Zukunft definiert? Leonard Chuene hat seinem Nachfolger und der IAAF kein leichtes Erbe hinterlassen, denn die Angelegenheit ist mit einem Dopingfall nicht zu vergleichen.
Die Sensibilität des Themas ist enorm, die Diskussion stellt die ganze Identität der Athletin infrage. Das darf nicht nochmal passieren, sagt auch Thomas Bach, Vizepräsident des IOC. Deshalb muss eine Antwort her.
Am Sonntag kehrt sie für das Istaf dahin zurück, wo alles seinen Lauf nahm - ins Berliner Olympiastadion. Vielleicht gewinnt sie wieder. Und vielleicht darf sie diesmal die Ehrenrunde zu Ende drehen.
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