Der Ethikrat: Das traurige Los alternder Hummeln
Sind wir mehr als unsere biologischen Determinanten? Und wenn ja, was? Der Ethikrat lässt dazu die falschen Stimmen zu Wort kommen.
I ch vermisste den Ethikrat, als ich in November-Bitternis fiel. Aber der Rat kommt dann, wenn er es für richtig hält. Er besteht aus drei älteren Männern von geringer Größe, die mir Handreichungen für meinen ethischen Alltag geben. Ich traf ihn unvermutet, als ich im Kinderzimmer staubsaugen wollte, wo Katzenflöhe eingezogen sind.
Der Ratsvorsitzende und seine beiden Kollegen trugen Anzug und Fliege, neben ihnen stand ein junger Mann mit Topknot und einem Hemd von mittlerer Lässigkeit. „Guten Abend“, sagte ich. „Erlaubt es Ihnen Ihre Zeit, bei mir vorbeizuschauen?“
„Aber ja doch“, sagte der Ethikrat-Vorsitzende und neigte seinen Kopf. „Wir haben uns erlaubt, einen Praktikanten mitzubringen.“
Er zeigte auf den jungen Mann, der ihn weit überragte. Der Praktikant hob nachlässig die Hand. „Setzen Sie sich doch“, sagte ich und deutete auf die Kinderstühle. „Haben Sie eine Frage an uns?“, sagte der Ratsvorsitzende, während seine Kollegen die Playmobilkiste durchsuchten. Der Praktikant blieb stehen. Er erinnerte mich an jemand Unangenehmes, aber ich kam nicht darauf, an wen.
Ich hatte kürzlich im Theater ein Stück über die Abwertung der alternden Frau in unserer Gesellschaft gesehen. Sechs Frauen um die 50 und ein Mann waren krakeelig auf der Bühne herumgelaufen, sie hatten ihre Nacktheit in Nahaufnahmen ausgestellt und damit die Schulklasse neben mir befremdet. Es gab auch einen Theorieteil, in dem sie die These vertraten, dass die Frau im Kapitalismus der häuslichen Sphäre und der Reproduktion zugeordnet sei und alternd als wertlos aussortiert werde.
Ich ging ratlos nach Hause. Wenn es vor allem um wirtschaftliche Nützlichkeit ging, müssten nicht auch die alten Männer aussortiert werden? Ich sprach mit meiner Schwester darüber, die Biologin ist und Verächterin sowohl der Geisteswissenschaften als auch gegenwärtiger Theaterinszenierungen.
„Wie dämlich ist das“, sagte sie. „Ein Hummelforscher hat es sehr viel besser erklärt.“ Der Forscher hatte beschrieben, dass bei den Hummeln die alten weiblichen Tiere die gefährlichsten Erkundungsflüge übernehmen, weil dem Hummelvolk das Überleben der jungen fortpflanzungsfähigen Hummeln wichtiger ist als das der erfahrenen alten. Was die alternden Frauen ins Aus befördere, sei so betrachtet der Verlust der Gebärfähigkeit.
An all das dachte ich, während die beiden Ratsmitglieder ihre Ledertaschen abstellten, in denen sie die Nachschlagewerke mit sich führen. Sie begannen, den Pferdehof aufzubauen, und es schien, als ob sie sich nicht einig werden könnten, wer das Palominopferd spielen dürfe.
„Muss man bei der Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse unsere biologischen Determinanten stärker in Rechnung ziehen?“, fragte ich in Richtung Ratsvorsitzenden. „Und wie ließe sich das Prestige der Erfahrung der Alten stärken?“
„Darf ich?“, sagte der Praktikant und baute sich vor mir auf. „Hey“, sagte er, „da ist der aktuelle Diskurs wohl an dir vorübergegangen.“
„Ich wüsste nicht, dass wir uns duzen“, antwortete ich, aber der Praktikant überging das. „Mit Biologismus wollen wir erst gar nicht anfangen“, sagte er und wandte sich in Richtung Playmobilkiste. „Holen Sie mal den Allen raus.“ Die Ratskollegen bauten an einem Sprungparcours und schienen ihn nicht zu hören.
Der Praktikant straffte sich. „Oder anders“, sagte er. „Bring dich mal selber ein: Was ist deine Sprecherinnenposition als nicht so junge, diskursferne Frau?“
„Nee, da bringe ich mich mal nicht ein“, sagte ich, aber dann fiel mir nichts weiter ein. Der Vorsitzende strich etwas in seinem Notizbuch durch und räusperte sich. „Ich möchte mich stellvertretend entschuldigen.“ Er raunte mir zu: „Wir haben uns durch die Fortschrittlichkeit seiner Frisur täuschen lassen.“
Der Ethikrat verließ das Zimmer, der Praktikant folgte mit Abstand und während er mich gekonnt übersah, ließ ich das Palominopferd in seine Tasche gleiten in der Hoffnung, dass man es gegen ihn verwenden würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure