piwik no script img

■ Der Einsatz im Kosovo wirft verschärft die Frage auf, unter welchen Umständen Interventionen zukünftig legitim sindDie Konsequenzen des Krieges

Mit jedem im Kosovo entdeckten Massengrab, mit jeder neuen Nachricht über Deportationen, Vergewaltigungen, Raub und Zerstörung stellt sich unabweisbar die Frage nach den künftigen Chancen einer menschenrechtsorientierten Politik in Europa. Denn entgegen dem Anschein, den die gegenwärtige Besetzung des Kosovo kraft UNO-Mandats erweckt, ist es keineswegs sicher, daß die intervenierenden Mächte ihr selbstgesetztes Ziel, die Einrichtung menschenwürdiger Verhältnisse in der Region, erreichen werden. Geschweige denn, daß sie in der Lage sein werden, einen neuen menschenrechtlichen Standard zu setzen.

Unglücklicherweise folgt aus der historischen Tendenz zur Internationalisierung der Ökonomie keine entsprechende Tendenz zur Internationalisierung politischer Entscheidungsprozesse, so daß wir, bei widrigen Fakten, uns nicht beruhigt zurücklehnen und mit Hegel räsonieren können: „Desto schlimmer für die Tatsachen!“

Die intervenierenden Mächte sind angetreten, um die Rechte der albanischen Minderheit im Kosovo zu schützen. Minderheitenrechte sind im Kern Menschenrechte, sofern man nicht der romantischen Auffassung folgt, wonach jedem Volk aufgrund seiner Individualität, seines „Volksgeistes“ ein Korpus unveräußerlicher Rechte zusteht. Minderheitenrechte wahrzunehmen heißt deshalb, daß jeder Angehörige dieser Gruppe Anspruch auf Anerkennung spezifischer politischer und kultureller Rechte hat, die er kollektiv ausübt – oder auf die er verzichtet. Denn der Minderheitenstatus ist kein Identitätsgefängnis.

Wie kann die Staatengemeinschaft oder eine Staatengruppe begründen, sich einzumischen, wenn Minderheitenrechte innerhalb eines Staates mit Füßen getreten werden? Keine leichtfertig zu entscheidende Frage, denn die Autonomie jedes Staates hängt eng mit seiner spezifischen inneren Friedensordnung zusammen, mit der Art und Weise, wie das Staatsvolk seine Souveränität verwirklicht. Also Intervention, wenn der Staat zerbricht, seine elementare friedenstiftende Funktion einbüßt, wenn schließlich jeder über jeden herfällt. Der Fall Somalia, der Fall Kambodscha. Intervention auch, wenn ein Regime sich anschickt, einen Teil seines Staatsvolks, eben eine Minderheit, seiner Existenzgrundlage zu berauben?

Nach 1933 hätten die westlichen Politiker gegenüber Nazi-Deutschland diese Frage glatt verneint. Die Verfolgung der Juden galt als eine innere Angelegenheit Deutschlands. Trotz der Nürnberger Prozesse hielt die Staatengemeinschaft auch nach 1945 an der Undurchlässigkeit staatlicher Souveränität fest. Diese Auffassung begann sich nach dem Ende des Kalten Krieges zu ändern, als die UNO als supranationaler Friedensstifter wiederentdeckt wurde.

Zum entscheidenden Datum für das westliche Europa wurde erst der Bosnienkrieg, Srebrenica, das untätige Zusehen angesichts des Massenmords. Jetzt sprach man von „humanitärer Intervention“, eigentlich hätte es heißen müssen: „militärische Intervention mit humanitärer Zielsetzung“. Etwas Neues, etwas Anspruchsvolles, denn die Mittel der Intervention mußten der humanitären Zielsetzung entsprechen.

Das war beim Luftkrieg gegen Restjugoslawien offensichtlich nicht der Fall. Und zwar weder gegenüber der serbischen Mehrheitsbevölkerung noch gegenüber der kosovarischen Minderheit, deren Vertreibung die objektive und voraussehbare Folge der Luftangriffe war.

Herfried Münkler, Politikwissenschaftler und Clausewitz-Kenner, meint, daß die westlichen Demokratien aufgrund der jeweiligen innenpolitischen Kriegsauswirkungen zu keiner anderen Art der Kriegführung mehr in der Lage seien. Wäre diese Analyse zutreffend, so brauchte man sich über die Etablierung eines erweiterten „humanitären“ Völkerrechts keine Gedanken mehr zu machen. Denn ein solches Recht als Zwangsrecht schließt notwendigerweise die gewaltsame Durchsetzung der Menschenrechte gegen deren konkrete Verletzer „auf dem Boden“ ein. Es gibt kein anders Mittel, die Verhältnismäßigkeit zu wahren und die Zivilbevölkerung zu schonen. Aber bislang ist Münklers These nur eine historisch ungedeckte Behauptung.

Wichtiger noch als dieser Streit ist die Beantwortung der Frage, wie eigentlich jetzt, nach der Stationierung der KFOR, das völkerrechtliche Gebrechen des Luftkriegs geheilt werden, wie den Menschenrechten als Minderheitenrechten zum Durchbruch verholfen werden kann. Für die Kosovaren ist klar, daß sie nur zurückkehren werden, wenn eine auf lange Dauer berechnete internationale Militärpräsenz sie schützt.

Wie steht es mit der serbischen Minderheit im Kosovo? Nicht wenige Beobachter der Szene halten es für unvermeidbar, daß das Kosovo jetzt von den Serben verlassen wird. Sie begnügen sich mit der Feststellung, eine Minderheit müsse eben den Willen zum Zusammenleben aufbringen, anderenfalls sei jede internationale Anstrengung zum Scheitern verurteilt. Wir müssen uns vor Augen halten, was eine solche Auffassung für das Projekt bedeutet, in Bosnien-Herzegowina durch internationale Anstrengungen einen multinationalen Staat zu etablieren. Oder für den Versuch, die Balance der Volksgruppen in Makedonien aufrechtzuerhalten.

Obwohl der Satz „Wer A sagt, muß auch B sagen“ in der Politik besser unterbleiben sollte, trifft er doch auf die Konsequenzen zu, die aus der KFOR-Besetzung des Kosovo zu ziehen sind. Heißt das nun, daß die Nato oder besser die UNO oder am besten neu einzurichtende Stand-by-Forces des UNO-Generalsekretärs intervenieren müssen, wo immer auf der Welt ein Staat seine eigene Bevölkerung oder einen Teil von ihr, eben eine nationale Minderheit, zu massakrieren beginnt?

Natürlich nicht. Aber für Europa gilt, daß der KFOR-Einsatz entweder als Vorgriff auf eine dauerhafte Friedenslösung wenigstens auf dem Balkan verstanden werden muß oder sich als gigantischer Fehlschlag erweisen wird. Das hat nichts mit einer abstrakten Idee von „räumlicher Nähe“ zu tun, sondern damit, daß Europa einen durch die Geschichte gegebenen historischen Zusammenhang bildet, aus dem man nicht einfach herausspringen kann, daß Europa eine Art „Verantwortungsgemeinschaft“ ist, die ihre offenen Rechnungen möglichst selbst begleichen sollte.

Diese Art von Verantwortung beginnen eine Reihe von Staatsleuten im westlichen Europa jetzt zu entdecken. „B sagen“ heißt für sie nicht nur, sich mit den Kosten einer lange währenden Militärpräsenz im Kosovo zwecks Sicherung der Menschenrechte vertraut zu machen. Es heißt speziell für die Europäische Union, ihre stärksten Instrumente aufzufahren: die der schrittweisen Integration. Christian Semler

Europa ist eine historisch gewachsene „Verantwortungsgemeinschaft“

Die EU muß auf dem Balkan ihre schärfste Waffe nutzen: die Integration

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen