■ Der Diskussion um Einwanderung fehlt es an politischer Perspektive und Kriterien: Das verbale Poker um die Integration
Als der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm im Frühsommer medienwirksam feststellte, daß es Gebiete in der Stadt gebe, in denen man sich nicht als Deutscher in Deutschland fühle, entsprach dies einer weitverbreiteten Stimmung. Längst wird in der Republik diskutiert, ob die multikulturelle Gesellschaft gescheitert sei. Kaum ein Magazin, kaum eine Tageszeitung, die sich in Reportagen nicht der Einwandererviertel des Landes angenommen hätten. Das Schanzenviertel in Hamburg, das Gallusviertel in Frankfurt, das Westend in München oder Neukölln und Kreuzberg in Berlin – sie alle werden als Beispiele des Scheiterns bemüht. Eine Ausländermüdigkeit breitet sich aus, die vielerorts bereits in Ressentiments umgeschlagen ist. Zu laut, zu aggressiv und zu viele seien die Türkenjungs. Zu anatolisch, zu arabisch, zu islamisch seien die Viertel heute.
Mit ungewohnt scharfen Worten forderte der Berliner Innensenator Schönbohm die Immigranten und deren in Deutschland geborene Kinder dazu auf, sich bei ihrer Integration mehr als bisher anzustrengen. Gleichzeitig meinte er, die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Ausländerghettos müßten allmählich aufgelöst werden. Migrantenpolitische Organisationen drohten daraufhin mit Abbruch der Dialogbereitschaft und verwiesen auf die enorme Integrationsleistung, die die Einwanderer in den letzten dreißig Jahren erbracht haben. Gestritten wird nun über die Frage, wer zuwenig für die Integration tut – die Immigranten oder die deutsche Gesellschaft.
Eine Analyse der Ausländerpolitik der letzten zwanzig Jahre zeigt, daß die bundesrepublikanische Politik in einer Bringschuld steht. Bereits 1979 stellte Heinz Kühn (SPD), der erste „Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“, in einem Memorandum fest: Deutschland sei ein Einwanderungsland, deshalb dürfe die Integration nicht als einseitige Leistung der Eingewanderten verstanden werden. Im einzelnen forderte Kühn integrative Maßnahmen im Bereich der Vorschule, Schule und der beruflichen Bildung, den ungehinderten Zugang zum Arbeitsmarkt, erleichterte Einbürgerung sowie das kommunale Wahlrecht. Gemessen an den Forderungen Kühns ist die Regierungszeit Helmut Kohls seit 1982 migrationspolitisch eine weitgehend verlorene Zeit. Tatsächlich versäumte die Regierung Kohl, zeitgleich mit der Novellierung des Ausländergesetzes im Jahr 1991 – die weit hinter den Erfordernissen einer entwickelten Einwanderungsgesellschaft zurückblieb – eine offensive Diskussion um das künftige Selbstverständnis der Republik zu führen.
Wer sollte künftig Deutscher sein? Was sollte „deutsch“ bedeuten angesichts einer ethnisch, religiös und kulturell heterogenen Gesellschaft? Wichtige Elemente dieser Diskussion wären die Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts gewesen ebenso wie die eines Einwanderungsgesetzes, das sowohl den Altbürgern wie den Einwanderungswilligen berechenbare und nachvollziehbare Kriterien für die Einwanderung an die Hand gegeben hätte. Das alles sind Aufgaben, vor denen sich die Regierung drückt. Eberhard Seidel-Pielen
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