Der Brexit ist da: „Darauf habe ich 47 Jahre gewartet“
Die einen lassen die Köpfe hängen, die anderen feiern heiter ihre „Unabhängigkeit“. Über den Gefühlszustand Londons in der Brexit-Night.
Pollner ist nervös. Die 55-Jährige ist um ihre Aufenthaltsgenehmigung besorgt. Seit 30 Jahren lebt sie im Vereinigten Königreich, 2017 zog sie allerdings für eine Weile woanders hin. „Ich brauche eher Schutz als warme Worte“, sagt sie. Kirsty Low, 35, ist Britin aus Glasgow. „Ich bin aus Solidarität hier“, erklärt sie. Neben ihr erzählt Leila Ben-Hassel aus Frankreich, dass sie nach dem Referendum beschimpft wurde. Sie solle zurück in ihr Land gehen. „Ich bin wütend über diesen sinnlosen Schritt der Briten.“
Etwas weniger förmlich geht es auf der anderen Seite der Themse zu. Dort hat die the3million-Bewegung, die sich für EU-BürgerInnen in Großbritannien einsetzt, zu einem Eurotrash-Abend eingeladen. Gegen 20 Uhr ist noch nicht allzu viel los. Brita und Daniel Nucinkis, beide in ihren Fünfzigern, beide deutsche MathematikerInnen, essen Wurst und trinken Bier. Sie leben wie Annette Pollner seit rund drei Jahrzehnten auf der Insel. „Ich hatte diesen Mist eigentlich akzeptiert“, sagt Brita. Jetzt wo es real werde, wollen die beiden die Nacht nicht alleine zuhause verbringen.
Am Parliament Square ist die Stimmung ausgelassen. Der Vorsitzende der Brexit-Partei, Richard Tice, hat eine „Unabhängigkeitsfeier“ organisiert. Um 22.30 Uhr, eine halbe Stunde vor dem Austritt, tummelt sich die Menge bis in die Seitenstraßen. Einige der Feiernden haben stundenlange Anreisen hinter sich und wollen an diesem geschichtsträchtigen Abend mit Gleichgesinnten zusammen sein. Sie schwenken britische Fahnen oder tragen Klamotten mit Union-Jack-Print.
Wer will, kann sich einen „Happy Brexit Day“-Button ans Revers stecken. Auch Gruppen aus dem rechtsradikalen Milieu haben sich unter die Leute gemischt, bleiben aber unauffällig. Immer wieder stimmen die Leave-Voters gemeinsam die Nationalhymne an, auf der Bühne läuft ein Film, der die Stationen des Brexits zeigt.
John Hodson, 59, trägt ein Sweatshirt auf dem „Britischer Unabhängigkeitstag 31.01.20“ steht. „Ich bin hier, um den Remainern ‚Ihr könnt mich mal!‘ zu sagen.“ Rose, Ende 60, beteuert, sie sei nicht gekommen, um den Brexit, sondern die Demokratie zu feiern. Jane Smith und Christine Jones, Büroangestellte aus Watford nördlich von London, nennen die EU „parasitär“. „Unser Land ist voll, überfüllt, und wie in Deutschland haben wir ein Einwanderungsproblem.“
Vor 10 Downing Street beginnt derweil der Countdown. Die auf die Außenfassade projizierte Uhr mit rot, blau und weißen Strahlen ist von dort, wo die Menge sich versammelt, schlecht zu erkennen.
Am Parliament Square singen die Menschen „Rule, Britannia!“, der Text läuft über den Bildschirm. Schließlich erscheint Nigel Farage auf der Bühne und verkündet: „Wir verlassen die EU!“ Großer Beifall. „Freedom!“, rufen einige. Es werden Glückwünsche zum „Independence Day“ ausgesprochen, ein älterer Mann tanzt ausgelassen mit seiner Union-Jack-Fahne. „Auf diesen Moment habe ich 47 Jahre lang gewartet.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml