piwik no script img

■  Der Berliner Kontrabassist Gerd Reinke war unauffälliges Mitglied eines Orchesters und der deutschen Gesellschaft. Bis er in Israel mit „Hitler“ unterschrieb. Es gab einen Aufschrei der Empörung. Heute ist Reinke ziemlich allein – und signiert weiterhin mit „Adolf Hitler“.Der Mann, der sich Hitler schreibt

Der Kontrabassist Gerd Reinke ist so gekleidet, wie man es von einem Berufsmusiker nicht erwarten würde: Er empfängt den Besucher in einer grauen, ausgebeulten Jogginghose, die ihren Halt unter dem Bauchansatz findet. Passend dazu trägt er ein Sweatshirt, dicke Wollsocken und Hausschlappen. Auch die Frage „Sie haben nicht zufällig einen Wein dabei?“ klingt nach einem gemütlichen Abend.

Reinke (54) setzt sich auf ein altes Sofa im ausgebauten Dachboden seines Hauses im Norden Berlins. Weil er sich das Rauchen wieder angewöhnt hat, aber keine Zigaretten im Haus hat, bedient er sich an den Zigaretten der Besucherin. Weil zufällig kein Wein mitgebracht wurde, holt er Apfelsaft.

*

Am 30. Mai 1997 war Reinke mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin auf einer Tournee in Tel Aviv. Auf dem Programm stand neben Mozarts „Zauberflöte“ auch die deutsch-israelische Völkerverständigung. Als er in der Bar des Hotels Sharon die Quittung für einige Bier und eine Flasche Rotwein mit „Adolf Hitler“ unterzeichnete, war es aus mit der Verständigung. Israelische Medien druckten die „Adolf“-Quittung auf der ersten Seite. Die deutsche Botschaft und der damalige Außenminister Kinkel sahen sich zu Entschuldigungen veranlasst.

Reinke wurde aus Israel ausgewiesen. Und danach umgehend fristlos gekündigt. Nach über zwanzig Jahren Orchesterzugehörigkeit. Auf Tonträgern, auf denen er neben anderen Musikern zu hören ist, wurden seine Aufnahmen herausgeschnitten. Seine Klage vor dem Arbeitsgericht wurde abgewiesen. Geblieben ist ihm nur der vom Berliner Senat 1984 verliehene Titel eines Berliner Kammervirtuosen.

*

Reinke hat Feuer im Kamin gemacht. „Das kostet weniger als die Heizung“, sagt er fast entschuldigend. Nach seinem Rauswurf verlor er auch seinen Lehrauftrag an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler und seine Mitgliedschaft in der Deutschen Orchestervereinigung. Jetzt hält er sich als Solomusiker über Wasser. Als ihn Kollegen von den London Philharmonikern aufforderten, sich bei Probespielen vorzustellen, winkte er ab. „Ich hatte keine Lust mehr, im Orchester zu spielen.“

Reinke war stellvertretender Solo-Kontrabassist. Schon lange vor seinem Rauswurf wollte er raus aus dem anonymen Orchestergraben. Vor Tel Aviv hatte er „15 bis 18 Solokonzerte pro Spielzeit“. Nach Tel Aviv vergingen acht Monate, bis er überhaupt wieder auf der Bühne stand.

Im Februar 1998 füllte er knapp die Hälfte der Sitze im Darmstädter Schloss. Ein Großteil kam, um den „Nazimusiker“ zu sehen. Der Rest, um Paganini, Saint-Saäns und Sarasate für Kontrabass und Klavier zu hören. Dann verging fast ein Jahr bis zum zweiten Konzert. Das war im Januar dieses Jahres im „Meistersaal“, in Berlins ältestem noch existierendem Kammermusiksaal. Reinke spielte vor 40 Zuhörern. Der dortige Direktor Kurt Lutz hatte die Hitler-Unterschrift abgehakt: „Was er gemacht hat, war ein blöder Fauxpas“, sagt Lutz. Reinke sei „ein hervorragender Kontrabassist“.

*

Ein Blick durch das Wohnzimmer lässt erkennen, dass der Kontrabassist herumgekommen ist. An der Wand hängen Holzmasken aus Afrika, auf dem Kaminsims stehen eine Miniatur des Schiefen Turm von Pisa und ein kleiner Pokal mit hebräischer Inschrift. Auf dem Boden liegen verstreut einige Notenblätter herum. Als Reinke sie zusammenschiebt, rutscht seine Jogginghose hinten gefährlich weit runter und gibt Einblicke, auf die man lieber verzichten würde.

Über seine Auftragslage und seine Auftritte im Ausland hält Reinke sich dagegen bedeckt. Nur so viel: „Es war ein bisschen mehr als in Deutschland.“ Nachfragen verbittet er sich. Auf nette, aber definitive Art: „Sie sind aber hartnäckig. Aber ich kann Ihnen nicht alles sagen.“ Und er verweist auf die zehn CDs, die er in seiner eigenen Produktionsfirma „rare classic compact disc“ herausgegeben hat.

„Ich bin weltweit der Einzige mit so vielen Kontrabass-CDs“, sagt er. Zwei hat er nach seinem Rauswurf herausgebracht, eine davon mit einem kleinen rumänischen Orchester. Denen sind seine Adolf-„Witzchen“ herzlich egal.

Weil der Absatz aber schleppend läuft, versucht sich Reinke als Geschäftsmann. Als vor wenigen Wochen bei Rowohlt das fiktive Tagebuch seiner Geschichte erschien, traf er sich mit dem Autor Friedrich Christian Delius und gab ihm einige CDs mit auf den Weg. „Vielleicht kann er nach einer Lesung ja einige verkaufen“, sagte er sich. Das Buch selbst interessiert ihn wenig. Der Autor versucht dort eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ zu finden. „Eine Lektüre für den Flieger oder Strand“, sagt Reinke. Die Antwortsuche sei sowieso vergeblich. Denn: „Es gibt keine Antwort.“

Und was die Konsequenzen für ihn betrifft: „Ich kann Sachen machen, für die ich vorher keine Zeit hatte.“ Zum Beispiel das Dachgeschoss seines Hauses ausbauen. Finanziert mit den Mieteinnahmen der beiden Wohnungen im Erdgeschoss. Das betont er. Wenn Reinke sagt, dass er es sich leisten könne, drei Monate gar nicht zu spielen, klingt das nach einem Kind, das ein Fernsehverbot der Eltern mit den Worten quittiert, dass die Glotze sowieso doof sei.

Und dass er kaum aufgetreten ist? Er hat komponiert und ein Buch über das Kontrabass-Spielen geschrieben. Mittlerweile hat er wieder „richtig Lust zu spielen“. Weil er aber weiß, dass er bei großen deutschen Orchestern gar nicht anzuklopfen braucht, vermittelt ihm eine Konzertagentur – „den Namen verrate ich lieber nicht“ – bei Bedarf kleine Orchester.

*

Noch heute bedauert Reinke, dass der jüdische Barkeeper, dem er die Quittung mit der Unterschrift „Adolf Hitler“ gegeben hatte, auf sein Einladungsschreiben nicht reagiert hat. „Ich hätte es gut gefunden, er hätte gesagt: ,Du hast Quatsch gemacht.‘ “ Eine Antwort wäre für ihn „ein Symbol der Verständigung“ gewesen. Doch sein Brief kam unbeantwortet zurück. Bis heute beschäftigt ihn auch die Frage, wie es gewesen wäre, wenn er in Berufung gegen die Abweisung seiner Klage vor dem Arbeitsgericht gegangen wäre.

Er meint, dass „ein deutsches Gericht jemanden nach dem verurteilen sollte, was er gemacht hat, und nicht nach dem, was daraus gemacht wurde“. Deshalb hatte er sich über die Jüdische Gemeinde einen jüdischen Anwalt besorgt. Denn: „Juden sind die Einzigen, die sich erlauben können, ehrlich über Juden zu reden.“ Doch der Anwalt hatte die Berufungsfrist verschwitzt.

Selbst wenn das Gericht entschieden hätte, dass seine Kündigung nicht rechtmäßig gewesen sei, wäre es nicht zu einer Weiterbeschäftigung gekommen. Reinkes Kollegen von der Deutschen Oper weigerten sich, weiter mit ihm zu arbeiten. Eigentlich wollte er auch nicht zurück, ihm ging es um eine Abfindung.

Zu einigen wenigen Kollegen von damals hat Reinke noch heute Kontakt. Ein langjähriger Freund hatte damals wie alle anderen Musiker gegen seine Weiterbeschäftigung gestimmt. Heute besteht er auf Geheimhaltung der gelegentlichen Treffen oder Telefonate. „Doppelmoral“, sagt Reinke. Er wüsste allerdings auch nicht zu sagen, wie er auf einen „Fall Reinke“ reagiert hätte.

Eigentlich sieht er sich nach wie vor als Tabubrecher in einer Zeit, die noch nicht reif ist für ihn. „Wenn wir Normalität zu Israel wollen“, sagt er, „muss das, was ich getan habe, als blöder Witz gelten.“ Heute bereut er, dem Gericht nicht gesagt zu haben, „wie es wirklich war“.

Wirklich heißt für ihn: dass der Direktor des Hotels schon vor der Tournee Vorbehalte gegen den Auftritt der Deutschen Oper gehabt habe, weil er seine Eltern in Auschwitz verloren habe; dass der Barkeeper über seinen „Witz“ gelacht habe; dass es ihm nur um die „Kontrolle der Unterschriften“ gegangen sei. Überall und allerorten müssten Menschen unterschreiben. Nie mache sich jemand die Mühe, Unterschrift und Identität zu vergleichen.

In einem Nebensatz erwähnt er, dass die Rechnung in Tel Aviv nicht die erste war, die er mit Hitler unterschrieben habe. Nur hat es keiner gemerkt. Nur war er nicht mit einem deutschen Orchester in Israel. Ehemalige Kollegen haben den Abend anders in Erinnerung. Reinke soll eine Frau an der Bar „massiv angebaggert“ haben. Als diese sich seinen Avancen entzog, soll er gesagt haben: „Ich kann auch ganz anders.“ Zudem sei Reinke nur als Ersatz für einen erkrankten Musiker mit auf die Tournee genommen worden.

Soll das eine Erklärung sein? Unterschreibt jemand seine Rechnung mit „Adolf Hitler“, weil er jahrelang seinen beruflichen Frust in sich hineingefressen hat und dann auch noch eine private Abfuhr einstecken muss?

Reinke geht auf so etwas nicht ein. Er bleibt dabei: „Vielleicht war die Zeit noch nicht reif.“ Vielleicht muss er nachhelfen, insistieren. Sein Kampf gegen die Bürokratie hat in Tel Aviv kein Ende gefunden. Er hat sich seitdem noch öfter als „Adolf Hitler“ ausgegeben. „Neulich im Urlaub in Griechenland habe ich eine Visacardrechnung mit Adolf Hitler unterschrieben“, sagt er. Keiner hat's gemerkt. Warum er das gemacht hat? „Das Leben ist so traurig, die Leute laufen nur mit h-Moll-Gesichtern rum.“

*

Reinke ist Witwer, hat zwei große Söhne. Demnächst will er wieder heiraten. Auf dem Kaminsims stehen zwei Fotos einer attraktiven Frau mit langen schwarzen Haaren. Mehr sagen will er nicht. Nur zwei Sätze. Erstens: „Sie ist Ägypterin.“ Zweitens: „Ägypten ist ja nicht gerade israelfreundlich.“ Auch das findet Reinke irgendwie witzig. B. Bollwahn de Paez Casanova

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen