: Der Atomstaat
■ Die Mobilisierung der Polizei ist zwingend
Eine Besonderheit der Atomentwicklung besteht darin, daß sie von einem gewissen Augenblick an unmöglich rückgängig gemacht werden kann. Dieses Phänomen der „Irreversibilität“ ist eine ganz neue historische Erscheinung.
Ist ein Reaktor einmal „angefahren“, dann werden damit Prozesse in Gang gesetzt, die man lange Zeit nicht mehr aus der Welt schaffen kann. Generationenlang andauernde radioaktive Zerfallsvorgänge mit ihren Strahlengefahren für alles Lebendige müssen von da an sorgfältig und in Permanenz kontrolliert werden. Überschreitet die Zahl zu bewachender Installationen und Entsorgungslager einen bestimmten Punkt, so muß strenge „Überwachung“ und „Kontrolle“ über einen sehr langen Zeitraum hinweg das politische Klima prägen.
Der Doppelantrieb von Terror- und Atomfurcht wird die Industriestaaten dazu veranlassen, alle „Erkenntnisse“, die über ihre Bürger in den verschiedensten staatlichen und privaten Datenbanken gehortet sind, bei Bedarf zu einem einzigen Warn- und Kontrollsystem von nie zuvor gekannter Dichte zusammenzuschalten.
Indem nunmehr das Überschreiten verfassungsmäßig gesetzter Grenzen durch die Exekutive und ihre Vollzugsbehörden als unter den neuen technischen Gegebenheiten unverzichtbar entschuldigt werden kann, ist die Voraussetzung für eine zunehmende Erweiterung der Rechtlosigkeit im Rechtsstaat geschaffen. Solche Maßnahmen werden sich dann nicht auf eine vorübergehende, außerordentliche Notlage – zum Beispiel einen Terroranschlag – berufen müssen, sondern auf die stets gefährdeten und als unentbehrlich erachteten Energiequellen hinweisen. Atomindustrie – das bedeutet permanente Bedrohung. Sie „erlaubt“ scharfe Gesetze zum „Schutz der Bürger“. Sie verlangt sogar die Bespitzelung von Atomgegnern als „Präventivmaßnahme“ und kann die Mobilisierung Zehntausender Polizisten gegen friedliche Demonstranten „rechtfertigen“.
Angesichts solcher Aspekte liegt es fast nahe, polemisch zu fragen, ob nicht diese Machtaspekte der Atomindustrie sie gewissen Kreisen so attraktiv macht, obwohl die wirtschaftlichen Gewinnaussichten der „neuen Kraft“ so zweifelhaft sind. Robert Jungk
aus: „Der Atomstaat“, erschienen 1977
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