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Der Anspruch - und die Wirklichkeit

■ Eine Betrachtung der Aids-Politik des SPD-AL-Senats / Festschreiben im Koalitionspapier allein hilft noch nicht

In der Aids-Politik des SPD-AL-Senats klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Im Kapitel Für eine soziale und ökologische Erneuerung der Gesundheitspolitik des Koalitionspapiers heißt es: „Die Lücken, die die Berliner Aids-Politik insbesondere im Bereich der Drogenpolitik gehabt hat, sind umgehend durch neue Maßnahmen im Sinne des Schutzes der hauptsächlich betroffenen Gruppen von HIV und Aids wie Schwule und Drogengebraucher zu schließen. Dies bedeutet gruppenspezifische Maßnahmen wie ein Stopp-Aids-Projekt und niedrigschwellige Angebote für Drogengebraucher, die zu einer abstinenten Therapie nicht bereit sind.“ Entwickelt hatte diese Kritik an der vielgelobten „Berliner Linie“ in Sachen Aids der Arbeitskreis Aids der AL im Vorwahlkampfjahr. Schwulenbewegte, Mitarbeiter der Aids -Hilfe, Drogengebraucher und drogenpolitisch Interessierte sowie AL-Gesundheitspolitiker hatten in diesem Arbeitskreis alternative und betroffenennahe Ansätze von Aids-Politik entworfen. Doch die Hoffnung, die Festschreibung dieser Positionen im Koalitionspapier sichere die Umsetzung, scheint verfehlt.

Zwar will der rot-grüne Senat nächstes Jahr 800.000 Mark mehr für Aids-Projekte ausgeben, 500.000 Mark davon sollen an die Selbsthilfeinitiativen gehen. Doch was beim ersten Hinsehen viel Geld erscheint - insbesondere weil andere Bereiche der Selbsthilfe zum Teil gar keine Zuwächse zu verzeichnen haben -, ist bei näherer Betrachtung eine deutliche Verschlechterung der Situation. Aids ist der einzige Bereich, in dem die Gruppen mit ständig wachsenden Krankenzahlen zu tun haben.

Deshalb hatte der CDU-Senat an die jährliche Verdoppelung der Krankenzahlen auch die Förderung der Selbsthilfegruppen angepaßt. Auch die Gesundheitsverwaltung rechnet für 1990 mit rund 800 neuen Aids-Erkrankungen - das sind so viele wie zuvor in den Jahren 1982 bis 1988 insgesamt gemeldet wurden. Die Etats der Aids-Hilfe und der anderen Beratungs- und Pflegegruppen bleiben jedoch hinter diesen immensen Anforderungen zurück. Und in den Folgejahren wird es weiter so gehen: Bis zum Wahljahr 1993 ist in West-Berlin mit 6.000 Aids-Kranken zu rechnen.

Zur Zeit finden Verhandlungen zwischen den Fraktionen von AL und SPD sowie der Gesundheitsverwaltung statt, in denen versucht wird, doch noch einen Kompromiß für die Aids -Projekte zu finden. Konkret stehen dabei drei Vorhaben zur Diskussion: ein Stopp-Aids-Projekt für schwule und bisexuelle Männer, in dem mittels Gesprächskreisen versucht werden soll, Probleme mit Safer Sex zu bewältigen, und das HIV-Positiven Informationen über verfügbare Therapien nahebringen will. Hier will der Senat von veranschlagten 670.000 Mark bislang nur 211.000 Mark zahlen - eine Summe, mit der das Projekt unmöglich starten kann. Im Pflegebereich kämpft die Aids-Sozialstation HIVe.V. um eine angemessene Finanzierung. Statt 25.000 Mark will man für nächstes Jahr 150.000 Mark, um dringende Aufgaben wie Öffentlichkeitsarbeit oder die psychologische Supervision der Mitarbeiter in Angriff nehmen zu können. Und der Drogengebraucherkontaktladen „Fixpunkt“, der von Ex-Usern geplant wird, die nun mit Methadon substituiert werden, hat überhaupt noch keine Finanzzusage: Dieses Projekt braucht zwischen 160.000 und 300.000 Mark. Allen drei Vorhaben hatten SPD und AL namentlich eine ausreichende Förderung im Koalitionspapier zugesagt.

In anderen Bereichen der Berliner Aids-Politik sieht es dagegen nicht so dürr aus. So soll das landeseigene Institut für Tropenmedizin nächstes Jahr 300.000 Mark zusätzlich für Forschung, Publikationen und öffentliche Kampagnen ihrer Aids-Politik erhalten, obwohl im Koalitionsvertrag vom Ausbau staatlicher Strukturen in diesem Bereich nicht die Rede ist.

Ebenfalls in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt worden war die Prüfung einer breiteren Methadonvergabe. Seit April tagt nun die zuständige Kommission; eine Anhörung, die im wesentlichen die Sinnhaftigkeit des Methadoneinsatzes bestätigte, ist gelaufen. Doch Helmut Ahrens, AL-Vertreter in der Kommission, ist nur „vorsichtig optimistisch“. Der Grund ist auch bei ihm das liebe Geld: Der Senat hat bislang 550.000 Mark für die Substitution vorgesehen. Doch das reicht wohl gerade zur Betreuung der 60 Substituierten, die bereits heute in Berlin Methadon erhalten. Laut Ahrens bräuchte man 300 bis 600 Plätze für Berlin, und das hieße dann bis zu 1,5 Millionen Mark Kosten für die nächsten drei Jahre. Bremser aus SPD und AL tun zur Zeit alles, um diese Diskussion zu verzögern und vor allem die Zahl der für die Substitution in Frage Stehenden so klein wie möglich zu halten. Dennoch will die SPD-AL-Kommission bis zum 1.Januar 1990 ein gemeinsames Konzept auf den Tisch legen.

Bis zu einem unverwechselbaren, betroffenennahen Profil des rot-grünen Senats in der Aids-Politik müssen noch einige Hürden genommen werden.

Andreas Salmen

Der Autor ist Mitarbeiter der Gruppe „Act-up Berlin - Feuer unterm Hintern“ und arbeitet zur Zeit für das Wissenschaftszentrum Berlin an einer Studie über Aids -Politik in der Bundesrepublik.

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