Das Portrait: Der Abräumer
■ Wolfgang Petry
Kennen Sie den? Er trägt vorne kurz, hinten lang, Jeans und Holzfällerhemd, einen Schnauz und sitzt neben einem in der Kneipe. Stress hat er, „mit meiner Ollen, verdammt“, die versteht ihn nämlich nicht, hat ihn sitzen lassen, nach all den Jahren, „Scheiße“, dabei hat er ihr alles gegeben, und nie hat er was anderes gewollt als eben „sie“, nicht mal „Bronze, Silber und Gold“. Und jetzt? Jetzt schickt sie einen durch die Hölle. Höllehöllehölle. Ein Drecksleben, wenn man nicht seine Kneipe hätte, die Kumpels und die Gewissheit, daß es einem so geht wie allen anderen eigentlich auch.
Man kennt ihn, auch wenn man ihn nicht persönlich kennt. Wolfgang Petry, der zzt. notorischste Schlagersänger der Republik, ist so unerhört normal, dass es schon wieder außerordentlich ist. Während seine Kollegen – Clüver, Brink, Lindner – sich für die Bühne stets fein machen und abstrakt wie seit 1.000 Schlagerjahren von Hoffnungen hinter dem Horizont, dem Feuer der Leidenschaft oder den Träumen, die man bitteschön leben soll, tremolieren, präsentiert sich „Wolle“ so, als habe man ihn gerade an der nächsten Frittenbude aufgegabelt und gebeten, mal eben so einzuspringen.
Und dann steht er auf der Bühne und benimmt sich so, wie sich die Leute auf dem Betriebsfest benehmen, wenn sie die Luftgitarren rausholen. Und erzählt, dass sein Herz schreit und alles ein einziger Wahnsinn ist bzw. eben auch: scheiße.
Genau. Es ist wirklich erstaunlich, dass die Schlagerindustrie so lange gebraucht hat, um einen wie Petry zu entdecken, der nach jämmerlichen Anfängen eigentlich schon am Ende war und jetzt für die entfremdet werktätigen Massen wahrscheinlich die größte Identifikationsfigur seit dem Hauptmann von Köpenick ist.
Matthias Reim, den heute schon keiner mehr kennt, hat einmal damit angefangen, Schlager- mit Rockweisen zu koppeln und eingängig fluchend die großen Ambivalenzen und Widersprüche des beschädigten Lebens massen- und discoabendkompatibel zu fassen – „Verdammt, ich lieb dich, ich lieb dich nicht“ – und damit den Weg geebnet, auf dem Petry so behende entlangschlurft und Stadien füllt und Schlagerpreise gewinnt, wie eben jetzt wieder die „Goldene Stimmgabel“. Der spezifische Petry-Stil wird längst kopiert; aber der Wolfgang von nebenan, ein prototypischer Primus inter Pares, ist der einzige, bei dem sich die Fans zum Kaffee einladen.
Stefan Gärtner
Hinweis:Größte Identifikationsfigur für die werktätigen Massen seit dem Hauptmann von Köpenick: Wolfgang Petry Foto: Images.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen