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■ Der 101. Ärztetag in Köln übt sich in DiskussionsverweigerungDer Arzt als Taschendieb

Je weniger in den Kassen ist, desto inniger klammern sich die Mediziner an die Erinnerungen der fetten Jahre von einst. War es früher nicht so, daß wer Arzt war, finanziell unbeschwert leben konnte – bis ans Ende seiner Tage? Autos, Reisen, Abschreibungen. Der Arzt hatte alles, es mangelte ihm an nichts. Dieses Wohlgefühl von einst hatten sie in Köln gesucht, die 250 Ärzteparlamentarier. Und als Gesundheitsminister Horst Seehofer mit ihnen gemeinsam die Bilder der goldenen Zeit, die zu verblaßen drohten, beschwor, reisten sie frühzeitig und gestärkt ab. Im Kopf die Zusicherung auf mehr Geld und höhere Honorare. Dafür läßt Seehofer die Versicherten zur Ader und die Krankenkassenbeiträge steigen.

Des Bundesministers Zusage darf als Geschenk an die 351.000 Kassenärzte betrachtet werden. Als Gegenleistung sollen sie die Koalition wählen. Eine billige Geste von Seehofer. Unverfroren verteilt er die Einnahmen der Solidargemeinschaft, nimmt sogar eine Erhöhung des Beitragssatzes und somit der Lohnnebenkosten in Kauf. Vier Monate vor der Wahl verramscht er seine eigene Gesundheitsreform. Kostendämpfung, Zulassungssperre und Bugetierung? Leere Worte auf fadem Gesetzespapier. Seehofers Stimmenkauf stärkt das Vertrauen in die Demokratie keineswegs. Aber was bedeutet Ärzten schon die Gepflogenheiten eines Parlaments? Der vorzeitige Aufbruch der Mehrheit der Delegierten des Ärztetags zeigt, wieweit das Interesse an innerer Demokratie und sachlicher Debatte reicht: exakt bis zum Geldbeutel. Die Frage etwa, ob bis zur 22. Schwangerschaftswoche ein Abbruch im Notfall wirklich vertretbar ist, hatte gar keine Chance, besprochen zu werden. Ärzte sind wohl nur bereit, sich mit den diffizilen Fragen der medizinischen Ethik nur konkret im Rahmen der Gebührenordnung zu befassen.

Im Leitantrag des Ärztetags heißt es: „Der Arzt muß Anwalt des Patienten sein und darf nicht zum Buchhalter der Krankenkassen gemacht werden.“ Schöner Satz. Daß er nicht viel wert ist, haben die Mediziner in der vergangenen Woche selbst bewiesen. Angesichts leerer Kassen mutieren Deutschlands Kassenärzte unter Anleitung des Gesundheitsministers zu Taschendieben. Aber sie irren, wenn sie meinen, ein Geschäft gemacht zu haben. Jeder neunte Bundesbürger ist in einer gesetzlichen Kasse, und die meisten von ihnen können im September wählen. Am Wahltag dürfte es Horst Seehofer übel werden. Den Ärzten bleibt immerhin die Erinnerung an bessere Tage. Annette Rogalla

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