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Depressiv im Elfenbeinturm

„Effizienz“ heißt das neue Zauberwort aller Hochschulreformer. Aber kann man auch die philosophischen Fakultäten mit der naturwissenschaftlichen Elle messen?

von ISABELLE SIEMES

Wissenschaftliche Gepflogenheiten können sehr verschieden sein. Tagungsreisende Mathematiker etwa landen schon mal singend in einer finnischen Karaokebar. Geisteswissenschaftler hingegen sitzen lieber beschaulich parlierend bei einem gepflegten Schöppchen Wein beisammen. In solch erhabener Runde präsentierte neulich in der Eifel ein Linguist seine neuesten Erkenntnisse der Textoptimierung – ein Verfahren, bei dem Texte auf ihren Informationskern verkürzt werden. „Es ist erstaunlich“, strahlte der Linguist, „aber bei poetischen Werken funktioniert die Textoptimierung nicht!“ Die anwesenden Literaturwissenschaftler lächelten süffisant. Neu hätten sie diese Erkenntnis ganz sicher nicht genannt.

Was die Textoptimierung für die Literatur, ist die anstehende Universitätsreform für die Geisteswissenschaften. Es kann nicht funktionieren, die „Erfahrungswissenschaften“ (Wilhelm Dilthey) demselben Effizienzgedanken zu unterwerfen wie die Naturwissenschaften – während Musik- und Kunsthochschulen von der Reform gesondert behandelt werden.

Führend bei der Effizienzreform ist derzeit Nordrhein-Westfalen. In einem „Hochschulpakt“ hat Bildungsministerin Gabriele Behler den vierzehn Universitäten des Landes eine tief greifende Reform verordnet. Der alte Magister wird durch den neuen Bachelor (BA) ersetzt, und die Studierenden werden – nach amerikanischem Vorbild – in drei Jahren durch ein vorstrukturiertes und von zahlreichen Prüfungen begleitetes Studium geschleust. Zur Straffung der Studieninhalte kommt eine stärkere Praxisorientierung, die etwa den Germanisten als künftigen Werbetexter, Kulturmanager oder Journalisten schon fest im Blick hat. Zudem will SPD-Frau Behler fünf Universitäten das Lehramt streichen.

Solch weitreichende Reglementierung hätte die Studierenden der philosophischen Fakultäten in früheren Jahren auf die Barrikaden getrieben. Doch dieses Mal ist es ruhig geblieben – denn die ministerielle Reform kommt, wie eine Umfrage des Germanistischen Instituts Düsseldorf von 1998 zeigt, den studentischen Wünschen entgegen: mehr Orientierung im Vorlesungsdschungel, mehr Strukturierung des Studiums, mehr Effizienz.

Die Leiterin des Hochschuldidaktischen Zentrums Dortmund, Sigrid Metz-Göckel, kann die Klagen über das herkömmliche Studium verstehen: „Die Studierenden wissen bis zum Examen nicht, wie es um ihren Studienerfolg steht, weil sie keine Rückmeldung erhalten – und das bedeutet für sie Stress.“ Auch mit der weitgehend freien Wahl der Seminare haben viele ihre Schwierigkeiten: „Es gibt Studierende, die weinend zu ihren Tutoren laufen, weil sie ihren Stundenplan nicht allein zusammenstellen können“, berichtet Corinna Kaiser, Leiterin der Schreibberatung der Uni Düsseldorf.

Tatsächlich haben die philosophischen Fakultäten die höchsten Studienabbrecherquoten, manche Fächer examinieren gerade einmal zehn bis zwanzig Prozent der Studienanfänger. Warum also nicht den Studierenden entgegenkommen, ihnen ein durchstrukturiertes und effizientes Schnellstudium anbieten und damit den Stressfaktor beträchtlich senken?

„Wir müssen erst einmal definieren, was Effizienz heißt“, mahnt Corinna Kaiser. „Es gibt nämlich einen großen Unterschied zwischen effizient lernen und Effizienz lernen.“ Effizienz – als optimale Selbstorganisation der eigenen Arbeit verstanden – lernen Studierende, so Kaiser, eben gerade nicht durch ein „enges Raster und ein schulisch vorgefertigtes Studium“. „Für einen Mediziner ist es wichtig, zu wissen, wie er effizient ein Skalpell einsetzt“, sagt Kaiser. Für einen Geisteswissenschaftler jedoch kann die Konditionierung auf nachprüfbare Ergebniskontrollen kontraproduktiv sein: Auswendiglernen statt eigenständiger Suche nach Problemlösungen.

Genau in diese Richtung aber zielt das Vorhaben der Reformer. Wenn, wie beim großen Vorbild Amerika, am Semesterende zu literarischen Texten Klausuren geschrieben werden, die eher an die Fragebögen von Meinungsforschungsinstituten erinnern und mit ihren möglichst knapp zu beantwortenden Fragen lediglich die Kenntnis von Kurzinhaltsangaben oder der Klausur des vorigen Semesters voraussetzen, scheint der Weg bis zur Einführung von Multiple-Choice-Tests nicht mehr weit.

Die mit der Reform verknüpfte Hoffnung, den Studierenden durch eine stärkere Verschulung des Studiums einen besseren und schnelleren Zugriff auf ihr Fach zu ermöglichen, sieht Bernd Witte, Germanistikprofessor an der Uni Düsseldorf, kritisch: „Ein didaktisches Häppchenmenü, wie von der Wissenschaftspolitik angestrebt, kann der Sache nicht gut tun.“ Das literaturwissenschaftliche Studium fordere ja gerade die Kenntnis großer Textmengen und einen historischen Überblick – nicht allein abfragbare Wissensschnipsel. Und das aus gutem Grund: „Das kollektive Gedächtnis, das lebenwichtig ist für die Gesellschaft“, sagt Witte, „ist zum großen Teil in der Literatur verankert.“

Solche Töne, die Inhalt und gesellschaftliche Relevanz des Faches verteidigen, sind zurzeit selten. Die meisten Geisteswissenschaftler sind seltsam verstummt. Sie pochen nicht auf die humanistische Bildung, noch stellen sie die Frage, ob eine effiziente, schnelle Lektüre etwa des „Zauberbergs“ zu einem besseren Verständnis des Romans führt. Stattdessen bemühen sie sich beflissen, die Vorgaben der Ministerien zu erfüllen.

Angesichts der fehlenden Selbstbehauptung seiner Zunft sah sich der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht jüngst veranlasst, die „selbstkasteiende Selbstunterschätzung der Germanisten“ zu beklagen. In seiner Eröffnungsrede zum Germanistentag in Erlangen Ende des vorigen Monats diagnostizierte er eine „Depression“, die in ihrer Intensität sogar die der Nachbardisziplinen überrage, und empfahl – im Sinne des kritischen Humanismus – „riskantes Denken“ im Elfenbeinturm.

Das ist schön gesagt und steht dem großen Herrn der Germanistik sicherlich wohl an, aber ist auch für die Studierenden riskantes Denken attraktiv? „Die Geisteswissenschaften sind dadurch attraktiv“, so drückt es der Bochumer Philosoph Gunter Scholtz aus, „dass etwas erforscht wird, was im Zweckzusammenhang der Gesellschaft nicht aufgeht.“ Und Punkt.

ISABELLE SIEMES, 31, lebt als freie Journalistin in Düsseldorf. Sie ist promovierte und staatsexaminierte Germanistin.

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