piwik no script img

Denkzettel für die ÖTV-Spitze

■ Damit hatten selbst Kritiker des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst nicht gerechnet: Nur 44,1 Prozent stimmten für den Tarifkompromiß. ÖTV-Chefin Wulf-Mathies kündigte Beratungen mit der Basis an.

Denkzettel für die ÖTV-Spitze Damit hatten selbst Kritiker des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst nicht gerechnet: Nur 44,1 Prozent stimmten für den Tarifkompromiß. ÖTV-Chefin Wulf-Mathies kündigte Beratungen mit der Basis an.

Das hat die Monika nicht verdient. Das hat sie wirklich nicht verdient“, stammelt die junge Mitarbeiterin in der Stuttgarter Hauptverwaltung der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Für die Vorsitzende Monika Wulf-Mathies kann dies am Donnerstag, am Tiefpunkt ihrer bisher so geradlinig wie steil verlaufenen Karriere, kein Trost sein.

Gerade eben, kurz nach 15.00 Uhr, hat die 50jährige ihre Niederlage bekannt und öffentlich eingestanden, was sich in den vergangenen Tagen immer deutlicher abgezeichnet hatte: Die Gewerkschaftsbasis hat ihrer seit zehn Jahren unangefochtenen Spitzen-Frau die Gefolgschaft versagt. In der dreitägigen Urabstimmung waren nur 44,1 Prozent für eine Annahme des von ihr ausgehandelten Tarifkompromisses, notwendig wären aber 50 Prozent gewesen. 5,4 Prozent mehr Lohn und Gehalt, nach Einkommen gestaffelte Einmalzahlungen von 750 und 600 Mark, dazu ein um 200 Mark erhöhtes Urlaubsgeld — diesen Kompromiß hatte Wulf-Mathies den Arbeitgebern von Bund, Ländern und Gemeinden abgetrotzt. Der Mehrheit der ÖTV-Mitglieder und vor allem den Streikenden in den großen Städten war es als Ergebnis eines elftägigen Arbeitskampfes zuwenig.

„Das Ergebnis bedrückt uns alle, auch mich ganz persönlich. Insbesondere die breite Ablehnung in den Arbeiterbereichen Nahverkehr und Müllabfuhr macht betroffen“, sagte Wulf-Mathies.

Weiter sagte sie, die ÖTV müsse selbstkritisch feststellen, „daß wir mit dieser Stimmung nicht gerechnet hatten, daß wir aber vor allem nicht vorhergesehen hatten, daß im Arbeiterbereich, für den wir das materiell beste Ergebnis erzielt hatten, die geringste Zustimmung kam“. Die Gewerkschafterin kündigte nicht ihren Rücktritt an, sondern erklärte, daß der richtige Ort zur Bewertung der ÖTV-Politik und zur Wahl der Führungsmannschaft der unmittelbar bevorstehende Gewerkschaftstag sei, der am 19. Juni in Nürnberg beginnt.

Die ÖTV-Chefin betonte, daß sich der geschäftsführende Hauptvorstand zur politischen Verantwortung für den Ablauf dieser Tarifbewegung bekenne. „Auch wenn manches an Einzelpunkten noch hätte verbessert werden können, so sehen wir aus heutiger Sicht keine andere verantwortbare Entscheidung als die, die gemeinsam von allen Verantwortlichen getroffen wurde“, betonte Wulf-Mathies.

Sie räumte ein, daß der geschäftsführende Hauptvorstand nach der Satzung über die Annahme des Verhandlungsergebnisses die alleinige Entscheidung treffen könnte. Er werde dies aber nach dem negativen Urabstimmungsergebnis jetzt nicht tun. „Wir werden zunächst das Gespräch mit unseren Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben und Verwaltungen suchen, denn wir wollen keine Zerreißprobe für die ÖTV heraufbeschwören“, rief die ÖTV-Vorsitzende aus.

Der geschäftsführende Hauptvorstand schlug vor, die nächsten Tage dazu zu nutzen, die Situation örtlich zu beraten und danach ein wirkliches Meinungsbild zu erstellen. Über die dann notwendigen Entscheidungen werde der Hauptvorstand in einer Sondersitzung am 25. Mai beraten.

Bei den nun stattfindenden Diskussionen in den Betrieben und Verwaltungen gelte es folgende Punkte zu bewerten. Das Tarifergebnis sei zwar abgelehnt worden, durch die zweite Urabstimmung habe die ÖTV aber auch keine satzungsrechtliche Mehrheit mehr von 75 Prozent für einen weiteren Streik.

Bei Bahn, Post und Polizei seien zudem wegen der dort niedrigeren Quoten die Verhandlungsergebnisse durch die gleichzeitig erfolgte Urabstimmung angenommen. „Wir stehen also jetzt allein“, sagte Wulf- Mathies. Viele von denen, die gegen das Ergebnis gestimmt hätten, wollten den Streik nicht wiederaufnehmen, hieß es.

Nach Einschätzung aller Verantwortlichen gebe es für Nachverhandlungen keinen Spielraum. Auch durch eine Fortsetzung des Arbeitskampfes sei eine Verbesserung des Ergebnisses nicht zu erreichen, zumal es dafür kaum noch Verständnis in der Öffentlichkeit gebe.

Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) hat als Verhandlungsführer des Bundes Nachverhandlungen bereits abgelehnt.

Der Streik bleibt bis zum 25. Mai, dem Datum der Sondersitzung des geschäftsführenden Hauptvorstands, weiter ausgesetzt. Wulf- Mathies kündigte an, daß sie bei dem Gewerkschaftstag im Juni wieder für das Amt der Vorsitzenden kandidieren werde. Auf die Frage, ob sie an Rücktritt denke, antwortete die ÖTV-Vorsitzende: „Ich will die Verantwortung nicht wegschieben.“ Wulf-Mathies sagte weiter, die ganze Wut und Enttäuschung, die in diesem Abstimmungsverhalten zum Ausdruck kämen, gelte es ernstzunehmen und sorgfältig zu analysieren. „Sie drückt meiner Meinung nach mehr aus als nur Frust darüber, daß die Streikziele nicht voll erfüllt wurden. Hier zeigt sich der Protest gegen die unsoziale Politik der Bundesregierung und gegen die Benachteiligung breiter Arbeitnehmerschichten. Hier zeigen sich aber auch soziale Ängste der Menschen, die man ernst nehmen muß“, sagte sie. ap

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen