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Den Stuhltest nicht vergessen!

■ Neu im Kino: „Die tödliche Maria“, fast ein großer Wurf von Tom Tykwer

Wie zeigt man im Kino ein freudloses, langweiliges Leben ohne dabei einen freudlosen, langweiligen Film zu drehen? An diesem Problem haben sich schon viele Regisseure versucht, aber befriedigende Lösungen gibt es nur wenige. Aki Kaurismäki gelang es im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ mit gnadenloser Lakonie.

Filmemacher Tom Tykwer erzählt eine ganz ähnliche Geschichte: In der „Tödlichen Maria“ läßt er eine entfesselte Kamera auf die Tristesse los. So viele ungewöhnliche Perspektiven, Fahrten, Effekte und Zooms hat es schon lange nichtmehr in einem deutschen Spielfilm versammelt gegeben. Auch bei Schnitt, Ton und Licht beweist Tykwer großen Erfindungsreichtum und Detailversessenheit. Und einige Szenen in seinem ersten langen Spielfilm sind schon großes Kino. Seine bedrohlich tickenden Uhren in klaustrophobisch wirkenden Räumen vergißt man so schnell nicht wieder. Die Kamera spielt sich fast ein bißchen zu sehr nach vorn, aber Tykwer kann zum Glück auch mit Schauspielern umgehen, und er hatte eine glückliche Hand beim Casting. Mit Joseph Bierbichler, Joachim Krol und Nina Petri sind die Hauptrollen ideal besetzt.

Wenn Tykwer genausoviel Energie ins Drehbuch gesteckt hätte, dann hätte dies ein ganz großer Wurf werden können. Der Film quillt fast über von visuellen Ideen, deshalb ist es umso enttäuschender, daß die Geschichte so ungeschickt erzählt wird: Maria braucht einfach zu lange, um tödlich zu werden.

Zu Beginn lernen wir sie als verhärmte, merkwürdige Frau kennen, die ihren Mann und ihren bettlägerigen Vater versorgen muß und ihre Einsamkeit durch rätselhafte Rituale erträglich macht. Am Schluß gibt es eine wohlig böse Auflösung mit einer schönen Schlußpointe, aber bis dahin müssen wir uns durch einen dicken Wust von Rückblenden quälen, die sehr genau erzählen, warum denn die Maria so seltsam geworden ist. Dadurch gewinnt die Figur aber nicht an Tiefe, sondern sie verliert nur ihre mythische Rätselhaftigkeit.

Außerdem wird Maria in den Rückblenden von zwei jüngeren Schauspielerinnen verkörpert, die sich zwar sehr bemühen, aber nicht an die intensive Charakterstudie von Nina Petri heranreichen. Und Tykwer zeigt nicht mehr, sondern erklärt zuviel, und seine Maria wird zu einem realistischen, banalen Sozialfall.

In Hollywood soll es mal einen Studioboß gegeben haben, der bei Testvorführungen das Publikum immer auf unbequemen Holzstühlen sitzen ließ, und jede Szene, bei der es knarrte, wurde aus dem Film geschnitten. Solch einen Stuhltest hätte „Die tödliche Maria“ bitter nötig gehabt. Wilfried Hippen

Im Cinema tägl. um 18.30 Uhr

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